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Klassenungleichheiten in der Corona-Krise – Was bleibt nach der Pandemie?

Die Corona-Pandemie hat uns allen die anhaltende Relevanz sozialer Klasse vor Augen geführt. Über den gesamten Pandemieverlauf wiesen die Auswirkungen von Sars-CoV-2 und der Eindämmungsmaßnahmen starke Ungleichheiten auf. Besonders deutlich zeigte sich die Klassendynamik in der von der Pandemie besonders betroffenen Arbeitswelt, strahlte aber auch auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wie dem Bildungssystem oder dem Gesundheitswesen aus. In dem gemeinsam von der Universität Osnabrück und dem Netzwerk der Kooperationsstellen Hochschulen und Gewerkschaften in Niedersachsen und Bremen durchgeführten Arbeitswelt-Monitor „Arbeiten in der Corona-Krise“ haben wir uns in vier Erhebungsrunden mit den Auswirkungen der beruflichen Position auf die Pandemieeffekte und das Arbeitserleben in der Corona-Krise beschäftigt.

Klassenungleichheiten in den unmittelbaren Pandemieauswirkungen

Nicht überraschend haben sich die Auswirkungen von Sars-CoV-2 und der Eindämmungsmaßnahmen im Verlauf der Pandemie gewandelt. Die finanziellen Einbussen, die zu Beginn der Pandemie und insbesondere während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 weit verbreitet waren, gingen im zweiten Pandemiejahr in vielen, wenn auch nicht allen Bereichen zurück, während gleichzeitig die Arbeitsbelastung für immer mehr Arbeitnehmende zunahm. Trotz der Verschiebungen in den Folgen der Pandemie blieben die Klassenungleichheiten in der Arbeitswelt während des gesamten Zeitraums unübersehbar. Besonders offensichtlich waren die vertikalen Ungleichheiten zwischen akademischen Berufen einerseits und Lehrberufen und Anlerntätigkeiten andererseits. Die unteren Klassen mussten in der Pandemie deutlich stärke Risiken und Lasten tragen. Unter anderem waren Arbeitende aus Berufen ohne akademischen Hintergrund stärker von Infektionsrisiken betroffen. Sie mussten häufiger finanzielle Einbußen hinnehmen, hatten unter weniger bzw. schlechteren Schutzmaßnahmen zu arbeiten, berichteten häufiger von Zukunftsunsicherheit, bekamen sehr viel seltener die Möglichkeit, mobil von zu Hause zu arbeiten, um Infektionsrisiken zu vermeiden oder die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben zu erleichtern, und verfügten zudem über deutlich geringere Teilhabe- und Mitbestimmungsmöglichkeiten im Betrieb. Zugleich zeigten sich neben den vertikalen Ungleichheiten zwischen Oben und Unten auch horizontale, tätigkeitsbasierte Differenzen, die insbesondere in den unteren Klassen – trotz weit geteilter Ohnmachtserfahrungen – zu einer Fragmentierung der Pandemieerfahrungen führten: Für die Dienstleistenden stellte die Corona-Pandemie primär eine Gesundheits- und Belastungskrise dar, die Kleingewerbetreibenden und zu Pandemiebeginn auch die Produktionsarbeitenden erlebten eine Wirtschaftskrise und für die Bürokräfte stellte die Pandemie zuallererst eine Treiberin des mobilen Arbeitens dar.

Nun sind Klassenungleichheiten für die soziologische Forschung nichts Neues. Im Theorieportfolio der Nachkriegsjahrzehnte hatten klassenanalytische Perspektiven lange Zeit einen zentralen Platz. Einen instruktiven Überblick über die verschiedenen Klassenkonzepte findet sich beim leider viel zu früh verstorbenen US-amerikanischen Soziologien Erik Olin Wright. Und nach einigen Jahren relativer Ruhe erfreut sich die soziale Klasse als analytische Kategorie – nicht zuletzt im Gefolge der Arbeiten von Didier Eribon – wieder einer beachtlichen Popularität in der Forschung. In einem Punkt unterscheidet sich die Klassendynamik der Corona-Pandemie jedoch von den Ungleichheiten im gesellschaftlichen Normalbetrieb, und zwar in der Präsenz der Klassenungleichheiten in den öffentlichen Diskursen und vor allem im Alltagsbewusstsein vieler Menschen. Zwar wäre es eine Übertreibung von einer Wiederkehr der von Ulrich Beck wortgewaltig beerdigten industriegesellschaftlicher Klassenidentitäten zu sprechen. Auch in unseren zahlreichen Interviews finden sich keine Hinweise darauf, dass die Pandemieerfahrungen mit neuen Kollektividentitäten einhergingen. Allerdings – und das ist ein zentraler Punkt – entfalteten sich die Ungleichheiten nicht hinter dem Rücken der Akteure. Die im eigenen Nahbereich beobachtbaren und auch medial viel diskutierten ungleichen Betroffenheiten führten vielen Erwerbsarbeitenden fortwährend die eigene Position in den gesellschaftlichen Hierarchien vor Augen.[1] In den unteren Klassen erlebten viele die im Vergleich zu anderen Berufsgruppen besonderen Betroffenheiten und die fehlenden Partizipationschancen als direkten Ausdruck der mit multiplen Benachteiligungen verknüpften sozioökonomischen Position des eigenen Berufs, in den oberen Klassen wurde das Arbeiten von zu Hause, das nicht nur eine effektive Schutzmaßnahme darstellte, sondern vielen Vereinbarkeitsmöglichkeiten bot, als spezifisches Privileg wahrgenommen.

Plädoyer für eine post-pandemische Arbeitsbewusstseinsforschung

Welche langfristigen, über die Pandemie hinausweisenden Auswirkungen die über mehr als zwei Jahre anhaltenden Ungleichheitserfahrungen auf die Gesellschaft haben, wird sich verlässlich erst in einigen Jahren sagen können. Relativ leicht lässt sich vorstellen, dass dort, wo während der Pandemie die Infektionsrisiken erhöht waren, mittel- und langfristig auch Post und Long COVID häufiger vorkommen, dass diejenigen, die während der Akutphase stärkere finanzielle Einbußen hinnehmen mussten, auch langfristig höhere wirtschaftliche Risiken tragen, und dass in den Berufen, in denen die Arbeitsbelastungen während der letzten drei Jahre besonders stark gestiegen sind, perspektivisch Belastungserscheinungen wie körperliche Beeinträchtigungen und Burnout vermehrt vorkommen. Völlig offen sind zum jetzigen Zeitpunkt allerdings die langfristigen subjektiven Folgen der Pandemie. Wie hat sich während der Corona-Krise die Sicht von Erwerbsarbeitenden auf die Arbeit und die Gesellschaft entwickelt? Welche Spuren hinterlassen gerade in den unteren Klassen die über zwei Jahre anhaltenden Ungleichheitserfahrungen im Bewusstsein der Menschen? Dies sind gesellschaftlich drängende Fragen, die im Rahmen einer post-pandemischen Arbeitsbewusstseinsforschung zu beantworten wären. Das Arbeitsbewusstsein und das gesellschaftliche Denken von Erwerbsarbeitenden gehören seit langem zu den klassischen Themen der bundesdeutschen Arbeits- und Industriesoziologie. Angestoßen von Heinrich Popitz und Hans Paul Bahrdt in den 1950er Jahren mit ihrer Studie „Das Gesellschaftsbild des Arbeiters“[2] beschäftigt sich die Forschung in wiederkehrenden Zyklen mit den subjektiven Folgen gesellschaftlicher Umbrüche.[3] Unserer Einschätzung stellt die Corona-Pandemie einen Anlasse dar, der die Frage des Arbeitsbewusstseins wieder auf die arbeits- und industriesoziologische Forschungsagenda hebt.

Gesellschaftsbilder in der Spätphase der Pandemie

Gewissermaßen als erster Schritt in Richtung einer post-pandemischen Arbeitsbewusstseinsforschung haben wir uns in einer bislang noch unveröffentlichten Analyse mit den alltäglichen Gesellschaftsbildern im letzten Jahr der Corona-Krise beschäftigt. Wie schauen Erwerbsarbeitende aus verschiedenen sozialen Klassen nach mehr als zwei Jahren Pandemie auf die Gesellschaft? Welche zentralen gesellschaftlichen Entwicklungsdynamiken sehen sie und wie erleben sie ihre eigene Position in der Gesellschaft? Anhand von quantitativen und qualitativen Daten vom Frühjahr 2022 entwickeln wir eine Typologie von sechs alltäglichen Gesellschaftsbildern: die „polarisierte Gesellschaft“, die „dichotome Gesellschaft“, die „regulierte Wettbewerbsgesellschaft in Schieflage“, die „Leistungsgesellschaft“, die „gefährdete Meritokratie“ und die „offene Gesellschaft“. Sie betreffen Vorstellungen über die Beschaffenheit der Gesellschaft, über die zentralen gesellschaftlichen Dynamiken und über die eigene Position in der Gesellschaft. An ihnen wird einerseits deutlich, wie unterschiedlich die Gesellschaft von Erwerbsarbeitenden nach zwei Jahren Pandemie erlebt wird (und wahrscheinlich auch schon vor der Corona-Krise!). Andererseits zeigen die Typen, dass die Klassenlage die Gesellschaftsvorstellungen beeinflusst.

Zwei der sechs Bilder – die „polarisierte Gesellschaft“ und die „dichotome Gesellschaft“ – basieren auf einer ausgesprochen kritischen perspektive auf die Gegenwartsgesellschaft und einer skeptischen Einschätzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Kritisiert werden die Erosion des Leistungsprinzips und ein Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Pole, das sich in den Augen der Akteure auch während der Corona-Pandemie fortgesetzt hat. Das Bild einer „polarisierten Gesellschaft“ skizziert eine tief gespaltene und von wachsenden Ungleichheiten geprägte Gesellschaft, deren Polarisierungsdynamik sowohl von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten als auch von der verselbständigten Politik angetrieben wird. Einer Politik, die sich von der Bevölkerung entfremdet hat und sozial Schwachen unlautere Vorteile in der gesellschaftlichen Konkurrenz um Ressourcen, Status und Positionen verschafft. Ohne Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung befinden sich die Befragten subjektiv in einem individuellen Überlebenskampf. Die „dichotome Gesellschaft“ wird ebenfalls von einem Auseinandertreiben der Gesellschaft charakterisiert. Allerdings ist die für das Gesellschaftsbild namensgebende Dichotome zwischen Oben und Unten strukturell in der kapitalistischen Dynamik – dem Streben nach immer mehr Gewinn – verankert. Die Position am unteren Ende der in ihren Augen unabwendbaren Dichotomie erscheint den Erwerbsarbeitenden als kollektives Schicksal. Auch die „regulierte Wettbewerbsgesellschaft in Schieflage“ basiert auf der Überzeugung, dass das Leistungsprinzip in der Gegenwartsgesellschaft nichts mehr zählt. Allerdings ist das Gesellschaftsbild trotz der ausgeprägten Ungleichheitskritik nicht aus einer Position der Ohnmacht formuliert: Die auch in der Corona-Pandemie weiter zunehmenden Ungleichheiten sind für die Akteure Ausdruck eines Regulierungsdefizits; die grundlegende Regulierbarkeit der Ökonomie wird jedoch nicht in Frage gestellt.

Neben den drei zum Teil sehr kritischen Gesellschaftsbildern finden sich drei Bilder, die auf der Überzeugung aufsetzen, dass das Leistungsversprechen auch in der Gegenwart greift. Gewissermaßen das Gegenstück zum polarisierten und zum dichotomen Gesellschaftsbild ist das Bild der „offenen Gesellschaft“, in der sich Leistung lohnt und allen Erwerbsarbeitenden auch in der Pandemie Teilhabemöglichkeiten eingeräumt werden. Ähnlich positiv ist der Blick auf die Pandemiemaßnahmen im Bild einer „Leistungsgesellschaft“, in der – wie im bundesrepublikanischen Aufstiegsversprechen – Ressourcen, Status und Positionen nach Leistung verteilt werden. Hingegen handelt es sich bei der „gefährdeten Meritokratie“ um ein liberal-individualistisches Gesellschaftsbild, in dem das Leistungsprinzip zwar eine starke Rolle spielt, die sozialpolitischen Eingriffe des Staates jedoch die Meritokratie gefährden. Aus Sicht der Akteure sorgen die staatlichen Eingriffe dafür, dass sich der freie Leistungswettbewerb in eine individuelle Leistungskonkurrenz verwandelt, in der zunehmend auch von unten unter Druck geraten.

Wie geht es weiter?

Wie sich die Gesellschaftsbilder von Erwerbsarbeitenden langfristig entwickeln, kann heute selbstverständlich noch nicht gesagt werden. Weitere Forschung ist an diesem Punkt erforderlich. Neben der Heterogenität der Bilder fallendie sozialstrukturellen Differenzen der Gesellschaftsvorstellungen auf. Die beiden sehr kritischen Bilder – die „polarisierte“ und die „dichotome Gesellschaft“ sind im Grunde Bilder der unteren Klassen – also jener Berufsgruppen, die besonders stark von den Gesundheitsrisiken, wirtschaftlichen Lasten und arbeitspolitischen Effekten der Pandemie betroffenen waren. Ungefähr die Hälfte der Produktionsarbeitenden und Dienstleistenden erlebt die Gesellschaft als dichotom oder als polarisiert und sich selbst als ohnmächtig. Hingegen finden sich die beiden auf einem Auseinandertreiben der Gesellschaft basierenden Bilder in den akademischen Berufen der oberen Klassen deutlich seltener. Noch deutlicher werden die Klassendifferenzen, wenn man noch das Bild der „regulierten Wettbewerbsgesellschaft in Schieflage“ hinzuzieht. Zwei Drittel der Produktionsarbeitenden und der Dienstleistenden erleben eine Gesellschaft, in der das Leistungsprinzip nichts mehr zählt. Ein umgekehrtes Bild zeigt sich am anderen Ende der Typologie: Die Vorstellung einer „offenen Gesellschaft“, die allen erwerbsarbeitenden Teilhabechancen einräumt, findet sich vor allem in den akademischen oberen Klassen. Nach zwei Jahren Pandemie hat die Klassenlage offensichtlich nicht nur Einfluss auf die unmittelbaren arbeitsweltlichen Auswirkungen der Corona-Krise, sondern ebenso auf die auch gesellschaftspolitisch relevanten Gesellschaftsvorstellungen. Denn wer die Gesellschaft als gespalten und vor allem sich selbst als ohnmächtig und ohne Einfluss auf die gesellschaftlichen Entwicklungen erlebt, wird sich kaum an demokratischen Prozessen beteiligen.

 

[1] Holst, Hajo/Fessler, Agnes/Niehoff, Steffen (2021): Die Pandemie als doppeltes Brennglas – Corona und die Wiederkehr der Klassengesellschaft. In: Arbeits- und Industriesoziologische Studien 14(2), 83-97.

[2] Popitz, Heinrich/Bahrdt, Hans Paul/Jüres, Ernst August/Kesting, Hanno (1957), Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie. Tübingen: Mohr.

[3] Kern, Horst/Schumann, Michael (1970): Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein. Frankfurt a.M.: EVA. Dörre, Klaus/Happ, Anja/Matuschek, Ingo (2013), Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Soziologische Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben. Hamburg: VSA.

01.12.2023