Mehr Digitales, mehr Arbeit?
Digitalisierung wird von der Politik als zentrale Lösungsstrategie zur Entlastung der Beschäftigten im Gesundheitswesen verfolgt. Doch inwieweit kann dieses Versprechen eingelöst werden? Eine neue Studie von WZB-Forscherin Christine Gerber gibt Aufschluss über die zentralen Digitalisierungsprojekte in Krankenhäusern und in der (ambulanten) Langzeitpflege sowie deren Folgen für die Arbeitsbedingungen. Die Studie zeigt nicht nur ein Missverhältnis zwischen den versprochenen Einsatzmöglichkeiten neuer Technologien und deren Nutzung in der Praxis. Ihr Ergebnis ist auch, dass Digitalisierung bislang nur begrenzt entlastet und neue Belastungen, inklusive Mehrarbeit, entstehen. Das Fazit: Digitalisierung alleine bringt keine unmittelbare Verbesserung und erfordert selbst personelle und finanzielle Ressourcen.
Christine Gerber, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Globalisierung, Arbeit und Produktion am WZB, identifiziert in dem Discussion Paper zentrale Digitalisierungsprojekte im Gesundheitswesen, untersucht deren Umsetzung und fragt, inwiefern sie zur Entlastung der Beschäftigten beitragen. Die Ergebnisse zeigen: Die digitale Dokumentation ist das zentrale Digitalisierungsprojekt. Herausfordernd ist dabei für Krankenhäuser vor allem, dass die vielzähligen, spezialisierten digitalen Systeme zumeist nicht interoperabel sind – also nicht kompatibel miteinander. Zudem müssen Arbeitsprozesse angepasst werden.
In der ambulanten Pflege bestehen vor allem regulatorische Hürden von Seiten der Kranken- und Pflegekassen. Die Studie beschreibt außerdem ein Missverhältnis zwischen den in der Öffentlichkeit und Politik formulierten Erwartungen an KI-gestützte Assistenzsysteme und Robotik einerseits und den tatsächlichen Einführungsprozessen und Bedarfen in der Praxis andererseits. Als weiteren, häufig weniger beachteten Bereich der Digitalisierung untersucht Christine Gerber in Krankenhäusern Ansätze der digitalen beziehungsweise virtuellen Kommunikation, zum Beispiel mithilfe von Onlineportalen und Apps. Sie sollen den Kommunikationsaufwand mit Patient*innen reduzieren.
Ambivalente Effekte: Arbeitsreduktion und Mehrarbeit
Entlastet die KI nun die Beschäftigten im Gesundheitswesen oder eher nicht? Hinsichtlich der erwarteten Verbesserung zeigt die Studie ambivalente Effekte. Die digitale Dokumentation steht dabei im Mittelpunkt. Als eine der größten Belastungsquellen gelten die in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Dokumentationsanforderungen. Zum einen skizziert die Studie Befunde für eine Arbeitsreduktion durch Vereinfachung bestimmter Dokumentationsschritte, zum Beispiel durch automatisierte Datenübertragung, unmittelbare Datenverfügbarkeit und Mehrfachnutzung von Daten. Zum anderen zeigt die Untersuchung, dass Mehrarbeit sowohl durch mehr Dokumentation (Abfrage von mehr Daten) als auch durch doppelte Dokumentation (verschiedene digitale/analoge Systeme) entsteht.
Neue Belastungen: Handlungsspielräume und Sichtbarkeit
Ein wichtiger Befund der Studie ist, dass zudem neue Belastungen entstehen können. Hierzu gehört insbesondere die Frage der Handlungsspielräume in digitalisierten Arbeitsumgebungen. Die digitale Dokumentation bildet die formalen Arbeitsabläufe ab – und kann dabei die Handlungsautonomie der Beschäftigten einschränken. Auf die Situation bezogene Arbeitsweisen und informelle Arbeitsteilungen können hierdurch erschwert werden – und bei Überbelastungen den Stress für die Beschäftigten noch erhöhen. Schließlich verweist die Studie auf die Gefahr, dass die gestiegene digitale Transparenz von Arbeitsprozessen bei den Beschäftigten zu dem Gefühl führen kann, individuell sichtbarer und damit auch kontrollierbarer zu werden.
Beschäftigtenzentrierte Digitalisierung
Die Studie unterstreicht die Notwendigkeit, Digitalisierungsstrategien und ‑anwendungen so zu entwickeln, dass dem Bedarf und der praktischen Arbeit der Beschäftigten im Gesundheitswesen Rechnung getragen wird. Nötig sind Konzepte, wie Beschäftigte in die Digitalisierung eingebunden werden können. Das reicht von der Identifikation von Problemen über die Entwicklung digitaler Anwendungen bis hin zur Implementierung. Digitalisierung erfordert somit selbst personelle und finanzielle Ressourcen in den Einrichtungen. Wichtig ist zudem: Digitalisierung allein löst nicht die strukturelle Krise der Überbelastung im Gesundheitswesen. Diese ist mit weitreichenderen politischen und institutionellen Herausforderungen verbunden, wie Christine Gerber deutlich macht.
Die Daten
Die Untersuchung basiert auf qualitativen Daten aus Expert*innen-Interviews und Fallstudien in vier Krankenhäusern sowie einem ambulanten Pflegedienst zwischen 2020 und 2022. Im Rahmen der Fallstudien wurden Vertreter*innen der Unternehmen und der Beschäftigten befragt.
19.3.25/kes