Leere Regale durch Bilder leerer Regale
Ein Beitrag zur Rolle von sozialen Normen in der Corona-Krise
von Hande Erkut, Steffen Huck und Johannes Leutgeb
Die Eindämmung der Corona-Pandemie verlangt nach einer grundlegenden Änderung im Sozialverhalten der gesamten Bevölkerung. Um diese zu erreichen, haben Regierungen im In- und Ausland unterschiedlichste Massnahmen verhängt, die bislang in westlichen Demokratien typischerweise weniger drakonisch ausgefallen sind als in weniger demokratischen Ländern. Unter expliziter Bezugnahme auf die demokratische Grundordnung setzen Regierungssprecherinnen in Pressekonferenzen und Virologen in Podcasts stattdessen auf Appelle an die Bevölkerung, um Verhaltensänderungen mit möglichst wenig Staatsgewalt zu erreichen. Solche Appelle können ihre Wirkung vor allem dann entfalten, wenn sie sich als soziale Norm etablieren. Daher stehen bei den Appellen die Konsequenzen des eigenen Tuns für Dritte im Vordergrund: Wenn Ihr im Supermarkt hamstert, bekommen die Krankenschwestern am Abend nichts mehr. Wenn Ihr Euch ansteckt, mag das nur ein kleines Risiko für Euch bedeuten, wenn Ihr jung seid; aber Ihr gefährdet andere, deren Risiko höher liegt. Diese Appelle sind in der Fernsehberichterstattung gerne untermalt mit Bildern, die die Verletzung der Norm illustrieren: leergefegte Regale und Partys im Park.
Diese Bebilderung mag aus dramaturgischen Gründen naheliegend sein, aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist sie jedoch schwierig. Wenn es um soziale Normen geht, müssen wir ganz grob zwischen zwei Spielarten unterscheiden: Injunktive Normen sagen einem, was andere gutheißen; deskriptive Normen dagegen sagen, was andere tatsächlich tun.(1) Bei einem mit Bildern leerer Regale unterlegten Appell, nicht zu hamstern, steht die injunktive Norm („Wir wollen nicht, dass Ihr hamstert“) in klarem Widerspruch zur deskripten Norm („Wir zeigen Euch: Es hamstern alle“). Individuelles Verhalten wird zwar durch beide Arten von Normen beeinflusst, aber deskriptive Normen sind besonders leicht zu erfassen – unsere Intuition, dass etwas, was alle tun, kaum falsch sein kann, ist stark ausgeprägt. Das führt dazu, dass injunktive Normen nur dann eine Chance haben, sich gegen deskriptive durchzusetzen, wenn die Umgebung ihre Bedeutung besonders stark hervorhebt.(2)
Noch besser wäre es freilich, in einem Beitrag gegen das Hamstern oder für das Prinzip des Social Distancing erst gar nicht die Negativbeispiele zu zeigen, sondern Bilder zu verwenden, in denen sich Menschen verantwortungsbewusst an die injunktive Norm halten – also zum Beispiel mit kleinen Einkaufskörben und großem Abstand zueinander vor der Supermarktkasse Schlange stehen. So würde nämlich die Information über das, was die Menschen tun, mit der Information über das, was sie tun sollten, in Einklang gebracht.
Oftmals leben soziale Normen aber auch von Sanktionen (was sie mit vielen staatlichen Regeln gemein haben). In Deutschland ist in den letzten Tagen mitunter von Denunziantentum gesprochen worden. Der Kognitionspsychologe Christian Stöcker etwa schrieb in einer Kolumne auf „spiegel.de“, man habe dort, wo Bürger Verstöße gegen Ausgehbeschränkungen meldeten, mitunter das Gefühl, „dass da jemand einfach mal ein bisschen Macht ausüben will“.(3) Damit Sanktionsmechanismen tatsächlich dazu beitragen, kooperatives Verhalten aufrechtzuerhalten, kommt es freilich weniger auf die persönliche Motivation dessen an, der einen Verstoß ahndet oder ihn meldet, sondern – wie der Verhaltensökonom Simon Gächter in einer vor einigen Jahren in „Science“ veröffentlichten international vergleichenden Studie gezeigt hat (4) – einzig auf die Zielgenauigkeit der Sanktionen. Nur wo echte, gleichzeitig aber auch „nur echte“ Verstöße gegen kooperatives Verhalten geahndet werden, funktioniert gesellschaftliche Kooperation in vollem Umfang. Interessanterweise funktioniert das Zusammenspiel von sozialer Norm und zielgerichteter Ahndung von Verstößen gegen die Norm insbesondere in westlich-demokratischen Ländern mit funktionierenden Zivilgesellschaften.
Gesellschaftliche Kooperation braucht es nicht nur jetzt in der akuten Coronavirus-Krise, gesellschaftliche Kooperation wird es auch dann brauchen, wenn das Virus besiegt oder zumindest in Schach gehalten ist und der wirtschaftliche Neustart beginnen kann. Einmal etablierte Verhaltensnormen neigen dazu, zäh zu sein, und können nicht mehr so leicht durch einzelne gute Vorbilder durchbrochen werden.(5) Anpassungsprozesse wiederum, die in kleinen Schritten von schierem Eigennutz zu gesellschaftlich effizientem Miteinander führen, gehen oftmals extrem langsam vonstatten.(6) Und so entscheiden die nächsten Wochen nicht nur über die Gesundheit der Menschen in diesem Sommer, sondern auch über unser aller Geschick weit darüber hinaus.
(1) Deutsch, Morton/Gerard, Harold B.: „A Study of Normative and Informational Social Influences upon Individual Judgement“. In: Journal of Abnormal and Social Psychology, 1955, Jg. 51, S. 629-636.
(2) Cialdini, Robert B./Reno, Raymond R./Kallgren, Carl A.: „A Focus Theory of Normative Conduct: Recycling the Concept of Norms to Reduce Littering in Public Places“. In: Journal of Personality and Social Psychology, 1990, Jg. 58, S. 1015-1026.
(3) Stöcker, Christian: „Das böse D-Wort“. In: spiegel.de, 29.3.2020.
(4) Herrmann, Benedikt/Thoeni, Christian/Gaechter, Simon: „Antisocial Punishments across Societies“. In: Science, 2018, Heft 319, S. 1362-1367.
(5) Young, H. Peyton: „The Economics of Convention“. In: Journal of Economic Perspectives, 1996, Jg. 10, S. 105-122.
(6) Huck, Steffen/Friedman, Daniel/Oprea, Ryan/Weidenholzer, Simon: „From Imitation to Collusion: Long-run Learning in a Low-information Environment“, In: Journal of Economic Theory, 2015, Heft 155, S. 185-205.
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8. April 2020 / HW