Silke Lock und Margot Belet von der Stiftung km2 Bildung
Stiftung km2 Bildung

"Selbstwirksamkeit erleben – so früh wie möglich"

Interview mit unseren Kooperationspartner*innen im Wissenschaftsjahr

Von Wuppertal bis Berlin-Neukölln: An zwölf Programmorte der Stiftung Ein Quadratkilometer Bildung sind in den letzten Monaten WZB-Forscher*innen gereist. In unserem gemeinsamen Projekt denk!mal FREIHEIT ging es darum, mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen: darüber, was Freiheit für sie bedeutet. Im Interview erzählen Silke Lock und Margot Belet von der täglichen Arbeit der Stiftung für mehr Bildungsgerechtigkeit in besonders herausgeforderten Quartieren.

Freiheit war unser und euer gemeinsames Thema im Wissenschaftsjahr: Welche Rolle spielt das Thema Freiheit in eurer täglichen Arbeit an den Schulen?

Margot Belet: Wir arbeiten an unseren Programmorten mit Kindern und Jugendlichen, die in herausgeforderten Soziallagen wohnen. Die Mehrheit von ihnen ist von Armut betroffen, teilweise haben sie Migrations- oder Fluchterfahrungen, viele leben in beengten Wohnverhältnissen. Das alles heißt natürlich, dass für sie im Vergleich zu vielen Gleichaltrigen persönliche Freiheit auch im Alltag nicht immer gegeben ist – oder dass sie für diese zumindest härter kämpfen müssen als viele Gleichaltrige. Da geht es zum Beispiel darum, dass sie nicht immer die gleichen Chancen haben, in ihrer Freizeit Sport zu treiben oder an anderen Freizeitaktivitäten teilzunehmen, weil die Infrastruktur nicht gegeben ist. Teilweise gibt es zwar Angebote, aber die Kinder und Jugendlichen haben dann oft das Gefühl, dass diese Angebote nicht für sie da sind.

Wie bestärkt ihr die Kinder darin, Angebote wahrzunehmen?

Margot Belet: Wir versuchen, möglichst niedrigschwellige Angebote zu schaffen. Wenn man z.B. noch nie mit Wissenschaft in Kontakt gekommen ist, dann ist es etwas Abstraktes, etwas Externes. Wenn man aber schon einmal Wissenschaftler*innen in der Klasse hatte – am besten mit einem spielerischen Ansatz wie dem digitalen Trickfilm-Tool des denk!mal FREIHEIT-Projekts –, dann hilft das dabei, Berührungsängste abzubauen und so auch mehr Interesse an der Wissenschaft zu wecken.

Eindrücke aus den Schulworkshops

Welche inhaltlichen Schwerpunkte haben eure Projekte – und was haben sie mit Freiheit zu tun?

Margot Belet: Unser Ziel ist es natürlich, den Kindern und Jugendlichen in unseren Programmorten eine Stimme zu geben und ihnen die Chance zu geben, sich einzubringen. Einige zentrale Themen für uns als Stiftung sind Sprach- und Leseförderung, Partizipation und Demokratie, individuelle Lernbegleitung, Integration und Inklusion sowie kulturelle und digitale Bildung.

Silke Lock: Es geht darum – je früher, desto besser –, Kindern und Jugendlichen das Gefühl der Teilhabe und Selbstwirksamkeit, das Gefühl der Mitgestaltung zu vermitteln. Nur wer das früh erfahren hat, kann dann später für sich und andere einstehen. Das ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe. Dazu gehört zum Beispiel: Mehrsprachigkeit nicht nur defizitär zu betrachten, wie es leider noch oft der Fall ist. Vielmehr setzen wir uns dafür ein, dass auch andere Sprachen als die „klassischen Fremdsprachen“ von Bildungsinstitutionen gefördert und als Ressource gesehen werden.

Übergänge im Bildungssystem sind euch besonders wichtig. Wie wirken sich Faktoren wie Armut und Herkunft aus?

Silke Lock: Das deutsche Bildungssystem ist sehr stark gegliedert. Kinder wechseln im Verlauf ihrer Bildungsbiografie mehrfach von einer Bildungseinrichtung in die nächste. Und die Gefahr besteht immer, dass dort Brüche entstehen. Also zuerst von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule, von der Grundschule in die weiterführende Schule mit Sekundarstufe und von dort aus zum Teil dann nochmal in die gymnasiale Oberstufe oder in eine andere Schule. Die fehlende Abstimmung zwischen den Bildungseinrichtungen bezogen auf pädagogische Ansätze und ein mangelnder Austausch in Bezug auf die Entwicklungsschritte von Kindern und Jugendlichen bergen Risiken für den individuellen Bildungserfolg.

Welche Schülerinnen und Schüler betrifft das besonders?

Silke Lock: Insbesondere diejenigen Kinder, deren Eltern sie aufgrund von schwierigen Lebensumständen oder auch mangelnder Kenntnis des Bildungssystems nicht gut unterstützen können. Deshalb entwickeln wir innerhalb oder zwischen den Bildungsinstitutionen bestimmte Praxisansätze, so zum Beispiel Eingangsbegleiter*innen, die in der 1:1-Betreuung Grundschulkinder fördern, die Eingewöhnungsschwierigkeiten haben. Oder Peer-to-Peer-Projekte, bei denen ältere Kinder Erstklässler*innen in den ersten Schultagen und über eine gewisse Zeit beim Ankommen in der Schule unterstützen. Wichtig sind aber auch Einschulungs-Elternabende, die eben nicht nur auf knappe Informationen begrenzt sind, sondern atmosphärisch so gestaltet werden, dass Eltern, die mit dem deutschen Schulsystem bisher noch nicht oft in Berührung gekommen sind, sich dort wohlfühlen.

Zurück zu unserem gemeinsamen Projekt. Was habt ihr bei denk!mal Freiheit selbst von den Kindern und Jugendlichen gelernt?

Margot Belet: Sehr viel. Sowohl Silke als auch ich waren vor Ort bei Workshops in den Schulklassen mit dabei und haben uns sehr gefreut zu sehen, wie unverstellt, neugierig und offen die beteiligten Kinder und Jugendlichen waren. Ich hatte auch das Gefühl, dass sie es wirklich sehr genossen haben, einfach mal ihre eigene Meinung zu größeren gesellschaftlichen Themen äußern zu dürfen und dabei wirklich ernst genommen zu werden. Zum Beispiel war ich in Brandenburg an der Havel beim Workshop zum Thema Protest dabei. Da wurden die teilnehmenden Kinder gefragt, für welche Themen sie auf die Straße gehen würden, um zu demonstrieren. Und da wurde dann klar, dass sie nicht nur für oder gegen alltägliche Themen, die für sie direkt persönlich relevant sind, demonstrieren würden – zum Beispiel die steigenden Dönerpreise –, sondern auch gegen bestimmte politische Trends. Auch zu Tierrechten oder Digitalisierung in der Schule haben die Kinder Positionen formuliert. Ich glaube, als Erwachsene kann man von so einer ehrlichen und fragenden Haltung sehr viel lernen.

Über das Wissenschaftsjahr hinausgedacht: Wie wichtig wäre die Verstetigung solcher Projekte?

Margot Belet: Verstetigung ist wichtig. Ich denke etwa an die Einbettung in die Unterrichtsplanung und die Lehrpläne. Und natürlich wäre Verstetigung auch wichtig für das gegenseitige Verständnis, also nicht nur zwischen pädagogischen Fachkräften und externen Partner*innen, sondern vor allem als Konstante für die Kinder und Jugendlichen. Wichtig wäre, dass man sich häufiger mit den gleichen Bezugspersonen treffen kann, dass man die gleiche Wissenschaftlerin oder den gleichen Wissenschaftler nochmal in der Klasse sieht und sich dann noch mehr mit dem Schwerpunktthema beschäftigen kann. Das ist eine Art von Verbindlichkeit, die Vertrauen schafft.

Wollt ihr den Forschenden noch etwas mit auf den Weg geben?

Margot Belet: Den Forschenden, die bei dem Projekt mitgemacht haben, einfach nur ein ganz großes Dankeschön. Ich komme selbst ursprünglich aus der Wissenschaft und ich weiß, wie schwierig es sein kann, nicht nur den direkten eigenen Forschungsdiskurs im Blick zu haben. Ich glaube, aber rauszugehen und in die Diskussion und in die Praxis zu gehen, ist sehr wichtig, auch weil die Segregation innerhalb der Gesellschaft groß ist. Projekte wie dieses, in denen man mal aus unterschiedlichen Perspektiven zusammenkommt und die Ideen und Bedarfe der jüngeren Generationen mitnimmt, die vielleicht auch zur Entwicklung von neuen Forschungsfragen beitragen können, sind wichtig.

Silke Lock: Von meiner Seite auch vor allem sehr großen Dank. Das waren tolle Reisen an Schulen in ganz Deutschland und ein wirklich großes persönliches Engagement der Beteiligten. Und es war auch für uns persönlich eine große Bereicherung.

Gibt es etwas, das eure Arbeit erleichtern würde – habt ihr Forderungen an die Politik?

Silke Lock: Ich denke nicht, dass es als Stiftung unsere Rolle ist, direkt mit Forderungen an die Politik heranzutreten. Tatsächlich ist es unser Wunsch, in den Quartieren, in denen unser Programm passend ist, gemeinsam mit der Politik zu versuchen, die Bildungschancen für Kinder und Jugendliche vor Ort zu verbessern. Die Problemlagen innerhalb dieser Quartiere sind häufig sehr komplex, beispielsweise verursacht durch Wohnsegregation. Das kann die Bildungspolitik allein nicht lösen; das sind strukturelle Probleme. Aktuell wurde mit dem Startchancenprogramm ein riesiger Schritt getan. Dieses ist langfristig angelegt, mit erheblichen finanziellen Ressourcen ausgestattet und verfolgt grundsätzlich eine Strategie, die wir sehr begrüßen: Ungleiches ungleich zu behandeln. Das heißt, Bildungsinstitutionen in Quartieren, die von besonderen Herausforderungen betroffen sind, werden mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Die Hoffnung besteht, dass durch dieses Programm bereits gut erprobte Konzepte langfristig umgesetzt werden können und – genauso wichtig – mit lokalen, bereits vorhandenen Ansätzen verzahnt werden.

Wir haben hier am WZB von Eurer Arbeit an den Schulen sehr profitiert. Ihr habt uns die Türen geöffnet – welche Bedeutung hatte die Zusammenarbeit mit dem WZB für Euch?

Silke Lock: Ich glaube, dass die Kooperation mit dem WZB für unser Programm eine große Bereicherung war. Nämlich insofern, als dass Schulen in herausgeforderten Lagen, mit denen wir es ja in unseren Programmorten immer zu tun haben, in der Regel deutlich seltener als andere die Gelegenheit haben, derartige Kooperationsprojekte anzubieten, einfach weil entsprechende Kontakte fehlen. Oder schlicht, weil – wie im sächsischen Meerane – die geografische Nähe zu wissenschaftlichen Einrichtungen nicht gegeben ist. Im Projekt denk!mal FREIHEIT sind die Wissenschaftler*innen gemeinsam mit den Künstler*innen durch ganz Deutschland gereist und haben den Kindern und Jugendlichen neue Perspektiven mitgebracht – und hoffentlich auch selbst welche gewonnen.

Das Interview führte Kaja Kröger.

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30.8.24/KK