Sitzende Schwangere wartend
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Der Krieg als Krise der reproduktiven Gesundheit

Von Hannah Zagel

Auch im Krieg werden Kinder gezeugt und geboren, Familien geplant oder Schwangerschaften verhütet – wenngleich unter anderen Vorzeichen als zu Friedenszeiten. Im Krieg ist es zudem für den Staat ungleich schwerer, seinen Bürgerinnen und Bürgern ihre reproduktiven Rechte zu garantieren und Ressourcen für die reproduktive Gesundheit bereitzustellen. Reproduktive Selbstbestimmung wird daher im Krieg massiv verletzt – das betrifft besonders Frauen.

Aus der Ukraine gingen kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs erschütternde Bilder von einer bombardierten Geburtsstation durch die Medien – ein Beispiel dafür, wie unmittelbar sich der Krieg auf die Versorgung der reproduktiven Gesundheit von Schwangeren und ihren Neugeborenen auswirkt. Die Bomben zerstörten zentrale Gesundheitsinfrastruktur sowie Vorräte medizinischen Materials und Medikamente. In Gebieten, die der direkten Gefahr des Beschusses ausgesetzt sind, werden Schwangere und Gebärende in Notunterkünften und Luftschutzkellern betreut. Behandlungen der reproduktiven Gesundheit, die regelmäßiger Konsultation bedürfen, sind erschwert, werden unterbrochen oder brechen ganz weg. Dazu zählen Krebsuntersuchungen, die Behandlung gynäkologischer und geburtshilflicher Erkrankungen sowie Hormonbehandlungen von Transpersonen. Aber auch in Gebieten der Ukraine, in denen keine Kampfhandlungen stattfinden, können medizinische Versorgungsengpässe durch versperrte Lieferwege zum Problem werden.

Versorgungsnot und Lebensgefahr von Schwangeren sind auch für Leihmutterschaft relevant, ein weiteres Feld der reproduktiven Rechte und Gesundheit, das nicht erst mit dem Krieg Aufmerksamkeit in den internationalen Medien erhält. Die Ukraine ist ein weltweites Zentrum für Leihmutterschaft, da hier im Gegensatz zu anderen Ländern die Regulierung von Leihmutterschaft unkompliziert und im Vergleich kostengünstig ist. Durch den internationalen Charakter des Geschäfts – etwa 90 Prozent der ukrainischen Leihmütter tragen die Schwangerschaften für künftige Eltern aus dem Ausland aus – bangen seit Beginn des Krieges weltweit Menschen um ihren Nachwuchs in der Ukraine. Die grenzübergreifenden reproduktiven Verflechtungen bringen spezifische Schwierigkeiten mit sich, die im Krieg besonders zutage treten. So müssen Leihmütter beispielsweise im Kriegsland ausharren, bis die Elternschaft den künftigen Eltern rechtlich übertragen wurde, da diese Anerkennung in anderen Ländern nicht gesichert ist. Zum Schutz der Embryos und Leihmütter bringen die Vermittlungsagenturen sie an vermeintlich sicheren Orten in der Ukraine unter, oft fern von den eigenen Familien der Leihmütter. Die Leihmütter sind auch im Krieg an die Verträge mit den Vermittlungsagenturen und den künftigen Eltern gebunden.  

Das internationale Gefälle bei der Regulierung reproduktiver Rechte, das in Friedenszeiten die reproduktiven Möglichkeiten für Personen mit Kinderwunsch erweitert, wird im Krieg für Leihmütter und künftige Eltern zu einer Dependenzfalle, in der gegenseitige Abhängigkeiten nicht einfach aufgelöst werden können.

Wie sehr die Versorgung und Absicherung reproduktiver Prozesse ortsgebunden sind, wird auch im Fall von Vertreibung und Flucht deutlich, die durch den Krieg ausgelöst werden. Die sonst genutzten Zugangswege zu gesundheitlichen Dienstleistungen wie Schwangerschaftsvorsorge und -abbrüchen oder die medizinische Versorgung nach sexualisierter Gewalt sind durch die Flucht versperrt. Hunderttausende Ukrainerinnen sind seit Beginn des Angriffskrieges aus ihren Heimatorten geflüchtet und sind an einem anderen Ort innerhalb der Ukraine oder jenseits der Grenze in Sicherheit. Am Zielort ist die Situation für die Geflüchteten zunächst unbekannt, sie sind von den lokalen Gegebenheiten wie Hilfsangeboten und Informationen abhängig. Entsprechend schwierig sind dann Vor- und Nachsorgeuntersuchungen von Schwangeren, aber auch der Zugang zu Verhütungsmitteln, Nachsorge von Schwangerschaftsabbrüchen und die Versorgung diverser (reproduktiver) Erkrankungen.

Besonders am Thema der sexualisierten Kriegsgewalt werden die verheerenden Folgen des Krieges für die reproduktive Gesundheit sichtbar und es wird zudem eine weitere Facette der Reproduktionspolitik aufgezeigt. Eine hohe Anzahl Frauen und Mädchen werden im Krieg Opfer von sexueller Gewalt. Dies kann sowohl Ursache als auch Folge von Flucht sein. Angesichts der oben dargestellten Versorgungsprobleme ist die Situation der reproduktiven Gesundheit von Überlebenden sexueller Gewalt im Krieg besonders dramatisch. Deshalb fordern internationale Hilfsorganisationen, sexualisierte Gewalt als Fluchtursache anzuerkennen, Aufnahmebedingungen geflüchteter Frauen anzupassen und Empowerment-Programme zur physischen und psychischen Stabilisierung geflüchteter Frauen anzubieten.

Schwangerschaftsabbrüche sind ein weiteres Beispiel dafür, wie der Krieg in die reproduktiven Rechte von Frauen eingreift. Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine sind viele tausende Frauen ins Nachbarland Polen geflohen. Hier gilt ein restriktives Abtreibungsrecht. Für die ankommenden geflüchteten Frauen, unter anderem auch Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt, bedeutet dies, dass sie in Polen keinen Schwangerschaftsabbruch durchführen können. Zwar gibt es hier auch Ausnahmeregelungen, jedoch sind diese zum einen sehr zeitintensiv, zum anderen fehlen häufig die notwendigen Informationen. Aber auch für viele polnische ungewollt Schwangere ist mit dem Krieg die Möglichkeit weggefallen, Schwangerschaftsabbrüche in der Ukraine vornehmen zu lassen.

Der Krieg schränkt auf vielen Ebenen reproduktive Rechte und Ressourcen ein. Er gefährdet gesundheitliche Dienstleistungen wie Schwangerschaftsvorsorge und -abbrüche, Leihmutterschaft, Krankheitsvorsorge und Versorgung nach sexualisierter Gewalt. Der Krieg in der Ukraine ist damit auch eine Krise der reproduktiven Gesundheit und Selbstbestimmung.

15.6.22