Kill or Pay the Bill: Vol. 1
Anna Holzscheiter und Steffen Huck zur Frage, warum wir so schlecht auf die großen Entscheidungen in der Coronakrise vorbereitet sind.
Letzte Woche ging es los mit den Lockerungen, in Spanien sind die Baustellen wieder in Betrieb, in Österreich haben selbst Juweliere wieder geöffnet, und in Dänemark gehen Kinder wieder zur Schule. Diese Maßnahmen erlauben ein Wiederhochfahren von Sozial- und Wirtschaftsleben, werden aber auch zu neuen Ansteckungen und Todesfällen führen, über die umgehend in den Zeitungen zu lesen sein wird. Willkommen in der neuen Realität, in der der Schutz der Gesundheit im öffentlichen Diskurs gegen seine wirtschaftlichen Kosten abgewogen wird.
Vor der Krise erfolgten freilich dieselben Abwägungen, nur dass der Verweis auf die ungemütlichen Kalkulationen fehlte, die jedem Gesundheitssystem zu eigen sind.
Eine EU-Studie zeigt, wie viele Todesfälle von Menschen im Alter von unter 75 im Jahr 2013 durch verbesserte Gesundheitssysteme vermeidbar gewesen wären. Insgesamt sind 2013 ca. 1,7 Millionen Menschen unter 75 in der EU gestorben. Wie viele hätten durch bessere medizinische Versorgung gerettet werden können?
Die Studie kommt auf 577.500 Sterbefälle, die mit besseren nationalen Gesundheitssystemen vermeidbar gewesen wären, das sind 33,7 Prozent. In Deutschland waren es 31,4 Prozent – 91.867 Menschen, die man hätte retten können.
Hat man aber nicht.
Und geredet hat man auch nicht darüber.
Dabei lässt sich sogar einigermaßen gut abschätzen, was die Rettung eines zusätzlichen Menschen kosten würde. Eine Untersuchung über 14 OECD-Nationen kommt zum Schluss, dass eine Erhöhung der Gesundheitsausgaben um 1 Prozent die Zahl der vermeidbaren Todesfälle um ca. 0,8 Prozent vermindert. Das bedeutet für Deutschland, dass ein zusätzliches Menschenleben für ca. 400.000 Euro gerettet werden kann. Diese Summe würde es die Bürger kosten, einen Menschen zu retten; die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Lebensrettung wären freilich viel geringer, da die 400.000 Euro ja auch wieder bei jemandem ankommen, bei der Krankenschwester, dem Arzt, der Herstellerin medizinischer Geräte. Die Höhe der gesamtgesellschaftlichen Kosten hängt von der Form der Finanzierung ab. Für die Finanzierung durch eine Erhöhung der Einkommensteuer kommt eine deutsche Studie auf Wohlfahrtsverluste von 26 Cent pro eingenommenem Euro. Diese Kosten resultieren daraus, dass es sich durch die zusätzliche Besteuerung weniger lohnt, (hart) zu arbeiten oder auch zu investieren. Sie ließen sich durch andere Formen der Besteuerung reduzieren. Insofern stellen die 26 Prozent eine Obergrenze dar und bedeuten, dass sich durch den Verzicht auf maximal rund 100.000 Euro das Leben eines Menschen retten ließe.
Durch die Eindämmung und Behandlung von Covid-19 entstehen zwei Arten von Kosten: Kosten, die durch Investitionen in zusätzliche Intensivbetten, zusätzliche Beatmungsgeräte und zusätzliches Klinikpersonal anfallen, und Kosten, die durch den Lockdown und den daraus resultierenden ökonomischen Stillstand entstehen. Der IMF rechnet für Deutschland mit einem Rückgang des Bruttoinlandprodukts von ca. 230 Milliarden Euro. Im Unterschied zu Investitionskosten sind dies echte gesamtgesellschaftliche Kosten, das heißt, davon kommt nichts bei jemand anderem an – es sind 230 Milliarden an Waren und Dienstleistungen, die effektiv zerstört werden. Demgegenüber steht nach düstersten Schätzungen die Rettung von bis zu 700.000 Menschenleben.
Eine einfache Division ergibt: Die Kosten, die wir bereit zu tragen sind, um ein Menschenleben vor dem Tod von Covid-19 zu retten, belaufen sich auf knapp 330.000 Euro.
Der Vergleich zeigt, wie die neue Realität, die uns zwingt, uns mit der Frage „Geld oder Leben“ zu beschäftigen, zu vollkommen anderen Antworten führt. Die Rettung eines durch Covid-19 bedrohten Menschen scheint uns mindestens dreimal so viel wert zu sein, wie die Rettung eines Menschen zu Nicht-Krisenzeiten. Darüber hinaus genießen Covid-19-Patient*innen augenblicklich Vorrang in den Krankenhäusern, und es wird zu untersuchen sein, wie sich die Krisenmaßnahmen auf andere Patient*innen, deren Operationen zum Beispiel verschoben werden, über die Zeit auswirken.
Wir wollen diese bevorzugte Behandlung von Covid-19-Patient*innen nicht weiter beurteilen, sondern stattdessen nur die Frage stellen, wie es zu derartig eklatanten Diskrepanzen kommen kann. Wir sehen vor allem zwei miteinander verwandte Mängel als Ursachen: den Mangel an ernsthafter öffentlicher Auseinandersetzung mit den brutalen Trade-offs, die viele politische Entscheidungen über Geld und Leben beinhalten, und den Mangel an rigoroser Interdisziplinarität in den Wissenschaften, die es deshalb nicht schafft, eine vernünftige Grundlage für die öffentliche Diskussion bereitzustellen.
Derzeit nehmen wir in aller Schärfe wahr, wie die Bedürfnisse und Rechte unterschiedlicher Gruppen dem vor Covid-19 geretteten Leben untergeordnet werden. Unzählige Menschen nehmen Einschnitte in Kauf – viele tragen hohe ökonomische Kosten, Kinder und Jugendliche stecken beim Recht auf Bildung zurück, ältere Menschen bei ihrem Bedürfnis nach Nähe und Gesellschaft.
Derartige Konflikte gab es aber auch schon vor der Coronakrise, und es wird sie nach ihr geben. Durch bessere medizinische Versorgung vermeidbare Sterbefälle sind dafür nur ein Beispiel. Andere Beispiele beinhalten die Frage eines allgemeinen Tempolimits oder die Großfrage des Klimawandels.
Die unbequeme Debatte nach der Priorisierung von Werten und Rechten erfordert dabei einen interdisziplinären Austausch, der sich nicht, wie im Leopoldina-Bericht, im freundlichen Miteinander von Medizinern, Juristinnen und Sozialwissenschaftlern erschöpft, sondern auch die Erkenntnisse aus anderen Disziplinen mit an Bord bringt, die augenblicklich kaum Gehör erhalten. Unter Anthropologinnen, Historikern, Verhaltensbiologinnen oder Moralphilosophen, um nur einige beispielhaft zu nennen, unter allen finden sich Forschende, deren Arbeiten ein wichtiges Licht werfen auf diese von Medizin und Sozialwissenschaften alleine nicht zu lösenden Großfragen.
Fortsetzung folgt.
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21. April 2020