Viel Hilfsbereitschaft, viel Protest
Polarisierung und Zusammenhalt liegen in der Pandemie nah beieinander
Von Gesine Höltmann und Swen Hutter
Gesellschaftliche Krisen – seien sie ökonomischer, naturbedingter oder sozialer Art – haben stets zwei Gesichter: Primär haben Krisen eine destruktive Wirkung. Sie zerstören Existenzen, verfestigen oder verschlimmern bestehende Ungleichheiten oder schaffen, wie die globale Finanzkrise von 2008, starke Vertrauensverluste in Politik und Regierungen. Auf den ersten Blick wirken Krisen vor allem polarisierend. Inmitten dieser gesellschaftlichen Ausnahmezustände finden sich jedoch stets auch Lichtblicke, wie wir es bei Naturkatastrophen oder auch nach der Ankunft zahlreicher Geflüchteter in Deutschland 2015 erlebt haben. Die Journalistin Rebecca Solnit spricht treffend von a paradise built in hell, um die außergewöhnlichen Gemeinschaften zu beschreiben, die sich in Krisenzuständen bilden können. Wiederholt sehen wir, dass Krisen unterschiedlichster Art Momente der Solidarität, des Zusammenhaltens und gelebter Hilfsbereitschaft sein können.
Blicken wir auf die gegenwärtige Situation der Corona-Krise war dies jedoch nicht selbstverständlich. Anders als in vorangegangenen Krisenmomenten waren die Zivilgesellschaft und jede*r Einzelne mit der sozialen Barriere von Kontaktverboten konfrontiert. Eine solche Einschränkung von Zwischenmenschlichkeit zum Wohle der Allgemeinheit ist nicht nur eine Belastung für das persönliche Wohlergehen, sie nimmt auch der Zivilgesellschaft zentrale Wirkungsstätten. Zu Beginn der Krise standen deshalb einige Fragen im Raum: Würden Engagement und Protest ohne Öffentlichkeit, ohne physisches Zusammenkommen möglich sein? Was passiert mit einer Gesellschaft, die gerade im Krisenmoment nicht physisch füreinander da sein kann, ihre Konflikte nicht auf der Straße zur Sprache bringen und aushandeln kann? Und welche Konsequenzen hat dies für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Im Forschungsprojekt „Potenziale der Zivilgesellschaft“ (SolZiv) untersuchen wir Ausmaß und Bedingungen solidarischen Verhaltens in zivilgesellschaftlichen Formen während der Corona-Pandemie. In diesem Beitrag stellen wir unsere ersten empirischen Ergebnisse vor,und diskutieren, was die zivilgesellschaftliche (De-)Aktivierung im Rahmen der Corona-Krise mittelfristig für Polarisierung und gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeuten könnte.
Zunächst lässt sich festhalten, dass sich die Sorge um einen kompletten Stillstand von sozialem und politischem Engagement rasch erübrigt hat. Nachbar*innen und freiwillige Helfer*innen ließen sich von den Kontakteinschränkungen nicht davon abhalten, für andere einkaufen zu gehen, Gabenzäune zu errichten und Unterstützungsgruppen zu organisieren. Auch im Bereich des politischen Engagements zeigten sich schnell kreative Formen von Protest; Bewegungen wie Fridays for Future versuchten durch Onlineprotest ihr Momentum zu erhalten, und auch die Querdenker Bewegung konnte sich mit ihrem lautstarken Widerspruch gegen die Corona-Maßnahmen mit regelmäßigen Protesten etablieren. Gleichzeitig sollten uns diese medial dominanten Berichte von Solidarität und Protest nicht sofort beruhigen. Wie auch in der Finanzkrise, nach Naturkatastrophen oder in den Jahren nach der Flüchtlingskrise stellt sich die Frage: Wie nachhaltig ist dieses Engagement? Welche Veränderungen beobachten wir schon jetzt für das soziale Kapital der Gesellschaft, und wird die Zivilgesellschaft auf womöglich noch nicht sichtbare Weise dauerhaft beeinträchtigt?
Ein großer Bedarf an Unterstützung
Anzeichen für einen gestärkten Zusammenhalt in der Corona-Krise sehen wir vor allem in der Aktivierung von individuellem prosozialem Handeln.Unsere Ergebnisse zeigen, dass wir in der Corona-Krise eine Aktivierung in der informellen Sphäre der Zivilgesellschaft erleben: Auch wenn man diejenigen berücksichtigt, die ihr Engagement während der Krise eingestellt oder pausiert haben, beobachten wir ein Plus im Bereich der Hilfsbereitschaft. Rund sechzig Prozent der Befragten haben im Zeitraum März bis Oktober 2020 Menschen außerhalb ihres Haushalts Unterstützung angeboten. Ein Großteil davon hat für andere Menschen Einkäufe erledigt, Kinder betreut oder Unterstützung bei anderen alltäglichen Aktivitäten geleistet. Rund ein Viertel hat sich auch ehrenamtlich engagiert oder Geld an Hilfsorganisationen und Initiativen gespendet. Zu Beginn der Krise gab es auch mehr Unterstützungsangebote, als tatsächlich in Anspruch genommen wurden. In erster Linie wurde jedoch dem eigenen sozialen Umfeld geholfen: Die große Mehrheit (82 Prozent) hat Freunde und Familie unterstützt sowie Nachbar*innen (50 Prozent). Dem „kleinen Wir“ kommt in der Bewältigung der Krise und in der Stärkung von lokalem Zusammenhalt somit eine primäre Rolle zu. Nur 15 Prozent der Befragten haben Personen unterstützt, die sie vor der Corona-Krise nicht kannten.
Inwieweit diese Hilfsbereitschaft den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken kann, hängt auch davon ab, ob die vielen Unterstützungsangebote der Nachfrage gerecht werden konnten.Denn die Krise hat einen enormen Bedarf an sozialer Unterstützung geschaffen: Nicht nur durch die Bedrohung der Krankheit selbst, sondern auch durch den wirtschaftlichen und sozialen Ausfall sind viele Menschen auf Einkaufshilfen, Kinderbetreuung, finanzielle und emotionale Unterstützung angewiesen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass rund ein Viertelder deutschen Bevölkerung soziale Unterstützung von Menschen außerhalb ihres Haushalts erhalten hat, wobei ein Drittel dieser Unterstützungsbeziehungen in der Krise neu entstanden ist. Jede*r Zehnte gibt an, dass er oder sie mehr Unterstützung gebraucht hätte, und rund die Hälfte davon hätte Unterstützung benötigt, hat jedoch keine erhalten. Der Bedarf in der Bevölkerung ist nicht nur stark sozioökonomisch strukturiert - auch die zusätzliche Krisenbelastung durch Corona-Infektionen im Haushalt, Pflegeverpflichtungen und Kinderbetreuung wird sichtbar. Diese drei Faktoren erhöhen nicht nur die Wahrscheinlichkeit, Unterstützung erhalten zu haben, sondern weisen auch diejenigen aus, die zu wenig Unterstützung erhalten haben.
Erste Befunde deuten an, dass gerade Menschen, deren Unterstützungsbedarf nicht erfüllt wurde, auch den Zusammenhalt in der Nachbarschaft geringer wahrnehmen als andere. Außerdem beobachten wir, dass für Unterstützung während der Pandemie ein großes soziales Netzwerk von Vorteil war. Im Umkehrschluss sind die Bedürfnisse von Menschen, die weniger gut sozial eingebettet sind, eher unbemerkt geblieben. Im Spiegelbild zur „Geber“-Seite, beobachten wir auch hier, dass das persönliche Umfeld primäre Quelle von Unterstützung war, während Nachbar*innen, Fremde und zivilgesellschaftliche Organisationen eine eher komplementäre Rolle eingenommen haben.
Abbildung: Von wem haben Sie während der Corona-Pandemie Unterstützung erhalten?
Organisierte Zivilgesellschaft mit Wucht getroffen
Zwar ist die Aktivierung von spontaner Hilfsbereitschaft im nahen sozialen Umfeld ein wichtiges Indiz von Solidarität in der Krise. Wir sollten jedoch auch die organisierte Zivilgesellschaft ins Auge fassen: Gerade die kollektiven Orte des Engagements – vom Vereinsleben bis hin zur informellen Gruppierung – haben eine besondere Relevanz für das Gemeinwesen und den Erhalt von sozialem Kapital. Inwiefern die organisierte Zivilgesellschaft beispielsweise durch innovative Ansätze auf die Krise reagieren konnte oder bleibende Schäden davonträgt, ist daher mittel- und langfristig von besonderer Relevanz für die Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Zusammen mit Kolleg*innen am Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) haben wir daher im SolZiv-Projekt auch zivilgesellschaftliche Akteure in Deutschland befragt – vom Fußballverein bis „Omas gegen rechts“. Etwa 25 Prozent der befragten Organisationen haben finanzielle und materielle Unterstützung für Betroffene geleistet; weitere knapp 14 Prozent haben konkrete pandemiebedingte Nachbarschaftshilfe organisiert. Diese positiven Befunde sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Corona-Krise die organisierte Zivilgesellschaft mit voller Wucht getroffen hat und zu einer starken Deaktivierung führte: Fast Dreiviertel der von uns befragten Organisationen geben an, dass die Krise negative bzw. sehr negative Auswirkungen auf ihre Arbeit habe. Rund 40 Prozent der Organisationen waren nach dem ersten Lockdown im vergangenen Jahr weniger aktiv und jede zehnte Organisation konnte ihre Haupttätigkeit noch nicht wieder aufnehmen. Ein wichtiger Teil von Solidarität und Hilfsbereitschaft fand wie gezeigt im informellen, oftmals privaten Bereich statt; zivilgesellschaftliche Organisationen spielten eine eher untergeordnete mobilisierende Rolle: Nur 17 Prozent der Bevölkerung geben bspw. an (selten bis sehr oft) von einer Organisation angesprochen worden zu sein, um soziale Unterstützung zu leisten.
Diese verstärkte Informalisierung bürgerschaftlichen Engagements in der Corona-Krise sehen wir auch beim Protestgeschehen. Auf den ersten Blick erscheinen gerade die Corona-Proteste der sogenannten Querdenker-Bewegung als Gegenpol zur solidarischen Unterstützung. Auch hier zeigt sich eine lose und informelle Organisation, die mit der Mobilisierung entstand und dieser nicht vorausging. Wie Edgar Grande und Kolleg*innen zeigen, bekundeten von Juni bis November 2020 konstant rund 20 Prozent der Befragten in Deutschland viel bis sehr viel Verständnis für die Proteste, während rund jede*r Zehnte selbst daran teilnehmen würde. Auch wird deutlich, dass ein Großteil des Potenzials aus der gesellschaftlichen Mitte stammt, die sich in ihrer Unzufriedenheit den politischen Rändern annähert und sich durch keine der derzeit im Bundestag vertretenen Parteien repräsentiert sieht. Dies zeigt die Bindekraft neuer politischer Formationen. Analog zur Radikalisierung der Bewegung ist jedoch auch der Teil der Bevölkerung gewachsen, der sich explizit gegen die Proteste ausspricht und sich von ihnen distanziert. Querdenker und ideologisch ähnlich ausgerichtete Gruppierungen spielen eine polarisierende Rolle in der Pandemie. Doch sie haben die Öffentlichkeit auch mobilisiert: Die offene und lautstarke Infragestellung der Pandemie verlangte nach einer gesellschaftlichen Mehrheit, die den Protest zwar duldet, aber sich dem entschlossen entgegenstellt.
Was bedeuten diese Indizien nun für den gesellschaftlichen Zusammenhalt während und nach der Corona-Krise? Der Diskurs über Spaltung und Zusammenhalt beruht meist auf der Annahme, mehr Polarisierung bedeute gleichzeitig weniger Zusammenhalt. Tatsächlich jedoch beobachten wir in der gegenwärtigen Krise zeitgleich stark ambivalente Entwicklungen: Zunächst lässt sich eine prosoziale Aktivierung feststellen, die den Eindruck von gestärktem Zusammenhalt weckt und ein großes Maß an Solidarität und Hilfsbereitschaft zum Ausdruck bringt. Die gute Nachricht ist daher, dass bürgerschaftliches Engagement nicht zum Erliegen gekommen ist. Gleichzeitig fördert die Pandemie antisoziale Tendenzen zutage und verstärkt bestehende oder schafft neue Ungleichheiten, die eine zusätzliche Grundlage für weitere Polarisierung bilden können. Die organisierte Zivilgesellschaft wurde stark getroffen, und besonders Personen ohne dichtes soziales Netz erhielten tendenziell zu wenig Unterstützung. Gleichzeitig liefern diese Dynamiken auch Anstöße für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse: Über die wissenschaftsfeindlichen und postfaktischen Aussagen der Querdenker oder die gesellschaftlichen Missstände beispielsweise im Pflegesektor. Dort, wo solche Aushandlungen angeregt und ausgetragen werden, entsteht Potenzial für eine solidarische Wendung oder zunehmende Polarisierung. In welche Richtung sich dies wendet, hängt unseres Erachtens stark davon ab, als wie nachhaltig und belastbar sich informelle Zusammenschlüsse in der Zivilgesellschaft erweisen.
Literatur
Borbath, E., Hunger, S., Hutter, S., Oana, I. (2021). Civic and Political Engagement during the Multifaceted COVID-19 Crisis. In: Swiss Political Science Review, first published: 10 May 2021.