Plakat mit Aufschrift "Alle fürs Klima"
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Protest in der Corona-Krise: Der Netzstreik fürs Klima

Ein Beitrag von Sophia Hunger und Swen Hutter

60 Prozent der Deutschen nannten im Herbst 2019 den Klimaschutz als eines der wichtigsten Probleme. Innerhalb kürzester Zeit verdrängte er Asyl- und Einwanderungsthemen von der Spitze der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die Europawahlen wurden zur Klimawahl, die Grünen erlebten einen Höhenflug, und die Bundesregierung sah sich massiver öffentlicher Kritik an den Beschlüssen des Klimakabinetts ausgesetzt.

Diese Dynamik ist dem Druck der Straße zu verdanken. Überall in Deutschland setzten sich Jugendliche mit dem Slogan Fridays for Future (FFF) für eine Begrenzung der Erderwärmung ein. Am ersten weltweiten Klimastreik von FFF im März 2019 nahmen rund 300.000 Menschen in 225 deutschen Städten teil. Diese Zahl stieg bis zum dritten Klimastreik im September auf 1,4 Millionen an, und auch wenn sie beim vierten Aktionstag im November wieder zurückging, bleibt FFF eine der mobilisierungsstärksten Bewegungen der letzten Jahrzehnte.

Nun hat die Corona-Krise den Alltag in kürzester Zeit auf den Kopf gestellt, und die Versammlungsverbote haben den Aktivistinnen und Aktivisten ihre zentralen Ressourcen entzogen: den öffentlichen Raum. Der Protest ist aber nicht verstummt, sondern hat sich andere Wege und Formen gesucht. The Guardian dokumentierte im April 2020 fast 100 physische, virtuelle und hybride Protestformen, von Autokarawanen und Mietstreiks bis zu digitalen Versammlungen und Teach-ins. Es überrascht wenig, dass es FFF mit einem breiten Bündnis an Organisationen gelang, mit dem #NetzstreikFürsKlima vom 24. April eine der erfolgreichsten hybriden Protestaktionen in Deutschland auf die Beine zu stellen. Unter dem Banner #FightEveryCrisis verfolgten 19.000 Menschen den Live-Stream mit Beiträgen von Aktivistinnen, Künstlern und Wissenschaftlerinnen. In manchen Orten wurde der öffentliche Raum besetzt. So wurden vor dem Bundestag Transparente von 70 Ortsgruppen ausgebreitet.

Schon im Vorfeld hatten die Organisator*innen zu „Mikro-Streiks“ aufgerufen, zu denen man sich namentlich registrieren lassen konnte und die auf einer eigens erstellten Website als grüne Punkte auf einer Deutschlandkarte dargestellt wurden. Wir haben diese Einträge ausgewertet, um zu erfahren, wo die FFF-Unterstützenden herkamen und welches Potenzial sich die virtuelle Bewegung erschließen konnte. Ist Deutschland tatsächlich so „grün“, wie es die Karte nahelegt?

Insgesamt haben sich fast 62.000 Personen registriert. In großen Städten nahmen erwartungsgemäß am meisten Personen teil, allen voran in Berlin (5.564), gefolgt von Hamburg (2.980), München (2.256) und Köln (1.689). Setzt man ihre Zahl jedoch relativ zur Bevölkerung, zeigt sich, dass Deutschland nicht überall gleich grün ist. Im Schnitt aller 401 untersuchten Kreise und kreisfreien Städte zählen wir sechs Protestierende auf 10.000 Einwohner*innen. Die Spannweite reicht aber von knapp 40 bis unter 1 (siehe Deutschlandkarte).

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Karte Klimastreik
WZB

Ein Ranking der Bundesländer und Top-FFF-Kreise (siehe Tabelle) zeigt die Stadtstaaten an der Spitze, gefolgt von Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Hessen, Bayern und Niedersachsen. Am wenigsten Protestierende konnte FFF in den neuen Bundesländern und im Saarland für sich gewinnen. Auf Kreisebene stechen die grünen Hochburgen und Universitätsstädte hervor. Spitzenreiterin ist Freiburg im Breisgau mit rund 40 Protestierenden pro 10.000 Einwohnern, gefolgt von Heidelberg mit 26,8 und anderen Hochschulstandorten wie Tübingen, Darmstadt und Bamberg. Zu den FFF-Epizentren zählen zudem das oberbayrische Starnberg, Schwabach in Baden-Württemberg sowie der Kreis Lüchow-Dannenberg, bekannt durch den Konflikt um das Atommülllager Gorleben.

Unsere Daten erlauben es nicht nur, regionale Unterschiede in der Intensität des Klimastreiks zu beschreiben, sondern auch Erklärungsfaktoren für diese Unterschiede zu testen. Wie Forschende vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung zeigen konnten, ist FFF eine junge, weibliche und gut gebildete Bewegung. In einer Regressionsanalyse auf Kreisebene beziehen wir verfügbare regionale Kennzahlen wie die Bevölkerungsanteile von unter 30-Jährigen, Frauen und akademisch Gebildeten sowie die Bundestagswahlergebnisse der Grünen 2017 und die Bevölkerungsdichte ein. Generell zeigen unsere Befunde für alle Faktoren einen statistisch signifikanten Zusammenhang; sprich: Der Netzstreik war erfolgreicher in Städten und dort, wo junge und gut gebildete Leute leben. Während jedoch der Frauenanteil nur einen geringen Unterschied ausmacht, führten zehn Prozent mehr Grünwähler*innen zu sieben Klimastreikenden mehr pro 10.000 Einwohnern. Ebenfalls stark ist der Einfluss des Anteils von unter 30-Jährigen und Beschäftigten in akademischen Berufen: Fünf Prozentpunkte mehr führten zu jeweils ca. einer streikenden Person mehr pro 10.000 Einwohnern.

Der #NetzstreikFürsKlima illustriert, dass soziale Bewegungen trotz der derzeitigen Einschränkungen neue Wege finden, ihre Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Zahl von rund 62.000 registrierten Streikenden ist gleichzeitig deutlicher geringer als die Zahl der Menschen, die sich bei früheren Aktionstagen auf den Straßen Deutschlands versammelten. Zudem deuten die Hauptorte der Mobilisierung und unsere Analyse an, dass FFF vor allem dort mobilisieren konnte, wo es schon ein starkes Potenzial gab. Es bleibt daher abzuwarten, wie lange sich eine Bewegung wie FFF ohne die Möglichkeit von Großveranstaltungen Gehör verschaffen kann.

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19.05.2020