Der Pass als Waffe – Russlands Politik der „Passportisierung“
Die imperiale Machtexpansion moderner Staaten vollzieht sich nicht nur durch gewaltsame Annexion fremden Staatsgebiets. Diese wird begleitet, vielfach auch vorbereitet, von dem leiseren Zugriff auf das Volk eines anderen Staates. Der imperiale Staat greift durch die gezielte kollektive Vergabe seiner Staatsbürgerschaft - in Gestalt seines Passes - an außerhalb seines Territoriums lebende Staatsangehörige eines anderen Staates in dessen Personalhoheit ein. Denn die Loyalitätsbeziehung des angegriffenen Staates zu seinen Bürgern wird durch die Zugehörigkeit zum Angreiferstaat gespalten und oder ganz aufgehoben. Eben dies ist die Wirkung imperialer Passvergabepolitik – auch wenn ihre Zielsetzungen nicht offengelegt werden.
Die Politik der „Passportisierung“ - nach dem ins Englische übernommenen russischen Wort „pasportizatsiya“ -der Russischen Föderation seit dem Machtantritt Putins als Präsident 2000 ist historisch kein Einzelfall, aber ein besonders prägnantes Beispiel imperialer Politik mit dem Pass als Waffe. Eine solche Passpolitik kennt verschiedene Stadien und Steigerungsformen. Sie zeigten sich anhand dreier Fälle russischer Interventionen während der letzten zwei Jahrzehnte, die von einem Anstieg des eingesetzten Gewaltpotenzials gekennzeichnet sind.
Ein postsowjetisches Machtinstrument
Der Ursprung imperialer Passportisierung durch Russland ist nicht verständlich ohne den historischen Umbruch der frühen 1990er Jahre, als nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 neben anderen Gebieten insbesondere die westlich und südwestlich an Russland grenzenden ehemaligen Sowjetrepubliken zu selbständigen, völkerrechtlich souveränen Staaten wurden. Zum einen lagen diese Staaten, unter ihnen die baltischen Republiken, Georgien und die Ukraine, dem Westen Europas geographisch, kulturell und politisch am nächsten, öffneten sich potenziell dessen Einfluss und waren schon von daher eine geopolitische Gefahrenzone aus der Sicht des politisch und ökonomisch geschwächten ehemaligen imperialen Zentrums Russland. Zum zweiten existierten auf dem Boden dieser neuen Staaten teils große sprachlich und kulturell russisch geprägte Minderheiten, die die Staatsangehörigkeit ihrer unabhängig gewordenen Heimatstaaten besaßen. Diese Diskrepanz zwischen einerseits staatlich-rechtlicher, andererseits sprachlich-kultureller Zugehörigkeit russisch geprägter Bevölkerungsgruppen wurde zum Ansatzpunkt machtpolitischer Einflussnahme Russlands auf die neuen Staaten.
Der erste Fall russischer Passportisierung betraf die aus dem Staatsverband des unabhängigen Georgiens herausgebrochenen Gebiete Abchasien und Südossetien. Russland unterstützte seit den frühen 1990-er Jahren die Unabhängigkeit dieser beiden von stark russischsprachigen Gruppen bewohnten Gebiete, kontrollierte diese militärisch durch eigene Truppen und förderte die ethnische ‚Säuberung‘ dieser Gebiete von Nicht-Russischsprachigen. Damit war der Boden bereitet für die Vergabe russischer Pässe mit der offiziellen Begründung, es gelte die Freiheit und Sicherheit der verbliebenen Bevölkerung gegenüber dem georgischen Staat zu sichern. Im Zuge dessen erhielten weit über 90 Prozent der verbliebenen Bevölkerung die russische Staatsangehörigkeit, die als einzige neben einer abchasischen bzw. südossetischen Staatsangehörigkeit zugelassen war. Als 2008 ein Krieg zwischen Georgien und Russland ausbrach, war der russische Präsident Medwedew bestrebt, die russische Invasion in Georgien mit dem Schutz des „Lebens und der Würde“ russischer Staatsbürger vor georgischen Militärmaßnahmen zu rechtfertigen – auch wenn diese erst zur Verteidigung nach der russischen Invasion erfolgten. Die massenhafte Vergabe russischer Pässe bereitete den Bruch der Souveränität Georgiens vor, indem zunächst dessen personelle Hoheit über seine Staatsangehörigen und daraufhin die territoriale Hoheit über einen Teil seines Staatsgebiets gewaltsam beseitigt wurde.
Von der Passportisierung zur ethnischen 'Säuberung'
Ließ Russland hier noch die doppelte – russische und abchasische bzw. südossetische – Staatsangehörigkeit zu, so erzwang es im Fall der Annexion der Krim 2014 die Durchsetzung der russischen Staatsangehörigkeit gegenüber der ukrainischen. Nach der gewaltsamen Einnahme und völkerrechtswidrigen Abtrennung der Halbinsel aus dem Staatsgebiet der Ukraine diente die parallel verlaufende Kampagne der Passvergabe der Festigung und Vollendung der territorialen Expansion. Innerhalb kürzester Zeit stattete ein wohlvorbereitetes Passportisierungssystem die Bewohner der Krim mit russischen Pässen aus, deren Inhaber die ukrainische Staatsangehörigkeit ablegen mussten. Die Kampagne setzte auf vorhandenen pro-russischen Nationalismus, dämonisierte die ukrainische Regierung als „faschistisch“, knüpfte an den russischen Pass elementare soziale Rechte und schloss politische Gegner sowie ‚Passverweigerer‘ von der nunmehr russifizierten Rechtsgemeinschaft der Krim aus. Die Passportisierung erzielte die ethnisch-nationale wie auch politische ‚Säuberung‘ und Homogenisierung eines Gebietes, auf das Russland ohne Bruch der Souveränität der Ukraine keinen Zugriff gehabt hätte.
Die folgende Passportisierung der Bevölkerung in den östlichen Gebieten der Ukraine setzte den Krieg fort, den Russland seit der gewaltsamen Einnahme der Krim - und nicht erst seit dem 24. Februar 2022 - gegen die Ukraine führte. Nachdem Russland 2014 militärisch und politisch die Sezession von Teilen der ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk ermöglicht und vorangetrieben hatte, erkannte es seit 2017 Ausweisdokumente dieser sogenannten „unabhängigen Volksrepubliken“ an und stellte seit 2019 zunächst Bewohnern dieser Gebiete russische Pässe aus, um dann noch weiterzugehen. Auch Bewohnern der noch unter ukrainischer Kontrolle stehenden Teile des Donbas wurde die erleichterte Einbürgerung ermöglicht, die von extraterritorial agierenden russischen Migrationsbehörden vollzogen wurde. Diese Maßnahmen verletzten die Souveränität der Ukraine, indem sie deren Personalhoheit untergruben, ohne die betroffenen Gebiete formal zu annektieren.
In der Rückschau fügen sich die russischen Maßnahmen der Passportisierung zu einem Muster der systematischen Destabilisierung unabhängiger Nachbarstaaten, die von gewaltsamen Brüchen des Völkerrechts begleitet war oder diese vorbereiteten. Der vorderhand ‚freiwillige‘, rechtlich zulässige Wechsel der Staatsbürgerschaft wurde hier begleitet von militärischer Gewalt sowie ethnischen und politischen ‚Säuberungen‘ mit dem Ziel der Untergrabung der Souveränität unabhängiger Staaten. Dies bedeutet einen Missbrauch des Staatsangehörigkeitsrechts als kriegsvorbereitende bzw. -begleitende Waffe.
Dies alles wussten Kenner des Staatsangehörigkeitsrechts und der russisch-sowjetischen Geschichte. Sie zeigten, dass die strategisch durchgeführten Passportisierungsmaßnahmen auch deshalb ihre durchgreifende Wirkung erreichten, weil sie auf ältere Muster der „pasportizatsiya“ seit der Zeit Stalins aufbauen konnten. Wie kaum ein anderer moderner Staat hatte die Sowjetunion die Kontrolle ihres Raums sowie die Steuerung der Bevölkerung seit den 1930-er Jahren durch ein System innerer Pässe systematisch durchzusetzen vermocht. Ein Pass bedeutete elementare Rechte und verhieß insoweit Schutz durch den Staat. Eben deshalb neigten die zu Russland tendierenden Bevölkerungsgruppen, die teils noch eigene Erfahrung mit der Sowjetunion besaßen, dazu, die Passportisierungsmaßnahmen als Gewinn, nicht selten auch als nationale Aufwertung aufzufassen. Dass sie dabei als Werkzeuge einer imperialen, völkerrechtswidrigen Strategie benutzt wurden, dürfte der großen Mehrheit unter ihnen zumindest gleichgültig gewesen sein. Ihnen wurde zuteil, was z.B. ein großer Teil der Millionen sogenannter „Volksdeutscher“ mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor durch die militärische Expansionspolitik des nationalsozialistischen Imperiums erfahren hatte: die Genugtuung, ‚heim ins Reich‘ zu gelangen.
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13.4.22