Ach, Europa!?
Mit seiner Vision einer dritten Supermacht Europa hat der französische Präsident Emmanuel Macron vor allem Empörung ausgelöst. Der Autor versucht, den Vorstoß als Weckruf zu lesen. Wie steht es um das Projekt eines souveränen Europas im Zeitalter multipler Krisen?
„Ach Europa!“ rief Hans-Magnus Enzensberger aus, nachdem er im Jahr 1987 auf der Suche nach diesem Gebilde nur Bruchstücke diversester Sprachkulturen und scheinbar unvereinbarer nationaler Empfindlichkeiten gefunden hatte. Europa, schloss er mit Hinweis auf den Mathematiker Benoît Mandelbrot, ist „ein fraktales Objekt irreduzibler Mannigfaltigkeit“. Und dennoch lässt er mit dem Ausrufezeichen durchblicken: Selbst, wenn die europäische Einheit eine Chimäre ist, ist dieses Chaos „unsere wichtigste Ressource. Wir leben von der Differenz“.
„Ach, Europa“ – mit nachdenklichem Komma, aber ohne Ausrufezeichen – klang bei Jürgen Habermas 2008 zwar schon skeptischer, war aber als patriotischer Aufruf gemeint. Und mit „Ach, Europa!“, einem Sammelband der Neuen Frankfurter Hefte, wollten noch 2020 Intellektuelle der SPD den an einer „handlungsfähigen Europäischen Union“ (Peter Glotz) Verzagenden wieder Mut machen, freilich schon mit erhobenem Zeigefinger: Der Rekurs auf die „gemeinsame europäische Kultur als Grenzziehung zwischen Europa und Nicht-Europa“ greife zu kurz, das Kriterium „demokratische Handlungsfähigkeit“ müsse in den Blick genommen werden, schrieb Jürgen Kocka.
Seit Putins brutaler Aggression im Februar 2022 muss nach „Ach, Europa“ leider ein dickes Fragezeichen gesetzt werden. Daran ändert auch Emmanuel Macrons Besuch in China nichts, im Gegenteil. Seine Aussage, das Taiwan-Problem gehe Europa eigentlich nichts an, vor allem aber sein Aufruf, Europa müsse zu einer „dritten Supermacht“ werden, hat in den europäischen Medien Empörung ausgelöst: Wie konnte er nur? Dabei wäre angesichts dieses grausigen Krieges nichts dringlicher, als sich mit Macrons früher Forderung nach einem souveränen Europa auseinanderzusetzen, um dieser Idee nicht nur einen klaren Inhalt zu verleihen, sondern auch realisierbare Reformvorstellungen daraus abzuleiten.
Ohne eine derartige Auseinandersetzung grenzt das Macron-Bashing in den Medien an Heuchelei. Erinnern wir uns. Das oft laue, wenn nicht skeptische Bekenntnis deutscher Regierungen zur Europäischen Union (und nicht viel anders das Bundesverfassungsgericht) ermutigte nicht gerade zu einem breiten öffentlichen Diskurs über Europas Souveränität. Im Gegenteil: Deutsche Regierungs- wie Oppositionskreise bedienten sich in den Jahrzehnten vor der „Zeitenwende“ gerne populistischer Horrorvisionen vom „bürokratischen Moloch“ in Brüssel oder vom „Sozialtourismus“ durch eine angeblich drohende „Transferunion“. Von groben bis arroganten Fehleinschätzungen führender Politiker ganz zu schweigen. Noch 2001 dozierte Altkanzler Helmut Schmidt in einem Gespräch mit Lothar Späth: „Von der Sowjetunion, von Russland heute geht in absehbarer Zeit keine politische oder wirtschaftliche Gefahr aus. Wir Europäer brauchen eine positive Russlandpolitik. Daran werden wir zum Teil heute gehindert, dadurch dass die Amerikaner das noch nicht begriffen haben.“ Und: „Es wird sich schon in ganz wenigen Jahren herausstellen, dass der Euro als Weltreserve-Währung und als Welthandelswährung ein ähnliches Gewicht haben wird wie der amerikanische Dollar.“
Es lohnt sich dagegen, Macrons Rede „Initiative für Europa“ vom 26. September 2017 an der Pariser Universität Sorbonne noch einmal genauer anzusehen. Zunächst sprühte diese Rede von einem Enthusiasmus, ohne den eine blühende Idee schnell vertrocknet: „Heute übernehme ich Verantwortung, indem ich vorschlage, das Wort Europa zu wagen und Zuneigung und Ambitionen hineinzulegen. Es soll nicht darum gehen, Gebote und Zwänge aufzuerlegen, sondern das Risiko einzugehen, eine kohärente, ehrgeizige Vision zu präsentieren, einen Weg, eine Perspektive vorzugeben, anstatt über die Instrumente zu debattieren; das unverzichtbare Risiko einzugehen, Initiativen zu ergreifen.“ Wo findet sich solcher Enthusiasmus im Diskurs deutscher Medien?
Macrons Ausgangspunkt war eine nicht unrealistische Einschätzung: Bisher sei Europa zweifach geschützt gewesen: zum einen sicherheitspolitisch von Amerika (sprich NATO), zum anderen innenpolitisch vor populistischen Leidenschaften (wie Nationalismus oder protektionistische Abschottung). Dieser Schutz ist verschwunden oder brüchig geworden. Umso wichtiger ist ein in sich starkes Europa. Selbst wenn es unvorstellbar ist, ohne die USA und die wieder erstarkte NATO dem russischen Einfall in die Ukraine erfolgreich Paroli zu bieten, wird ohne ein souveränes Europa die geplante Integration der Ukraine und ihr nachhaltiger Wiederaufbau nicht gelingen. Ohne eine handlungsfähige Europäische Union wird sich der nationalistische Rechtspopulismus weiter ausbreiten, und auch gegen entsprechende Tendenzen in den USA muss Europa gewappnet sein. Ganz zu schweigen von den globalen Herausforderungen der Klimaerwärmung, des Terrorismus, der Migration, des digitalen Strukturwandels, die eine Nation allein nicht schultern kann.
Macron sprach von „sechs Schlüsseln der Souveränität“: Erstens Sicherheit, und zwar nicht nur militärpolitisch, sondern auch zur Terrorismusbekämpfung und Cybersicherheit; zweitens Garantie dieser Souveränität durch Sicherung der Grenzen und kontrollierte Zuwanderung; drittens eine aktive Außenpolitik, insbesondere eine strategische Partnerschaft mit Afrika; viertens eine nachhaltige Energie- und Industriepolitik; fünftens digitale Souveränität; sechstens schließlich fiskalische Souveränität als eine europäische „Wirtschafts-, Industrie- und Währungsmacht“.
Macrons Vision eines souveränen Europas entsprach keineswegs der oft zitierten Bemerkung von Helmut Schmidt, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Zu allen „Schlüsseln“ europäischer Souveränität entwickelte Macron vielmehr konkrete Vorschläge, insbesondere zur fiskalischen Souveränität. In diese schloss Macron explizit auch die soziale Dimension ein, das heißt eine „echte Sozialkonvergenz“ und eine „schrittweise Annäherung der Sozialmodelle“. Eine besondere Rolle spielte für ihn dabei Bildung: „Europa soll jener Raum werden, in dem jeder Studierende bis 2024 mindestens zwei europäische Sprachen spricht. Bis 2024 soll die Hälfte einer Altersgruppe bis zu ihrem 25. Lebensjahr mindestens sechs Monate in einem anderen europäischen Land verbracht haben. Seien es Studierende oder Auszubildende. Ich schlage die Einrichtung europäischer Universitäten vor, die ein Netzwerk von Universitäten aus mehreren Ländern Europas bilden.“ Kurz: Dem Bologna-Prozess sollte ein „Sorbonne-Prozess“ folgen, der auch die Sekundarschulen wie die Berufsbildung umfasste.
Am Ende seine Rede kommt Macron jedoch auf den Boden europäischer Tatsachen zurück, nämlich auf den Umstand, dass das französische und niederländische Nein zum europäischen Verfassungsentwurf 2005 eine „Eiszeit“ hervorrief, in der sich niemand mehr traue, Reformvorschläge zu entwickeln, die eine Vertragsänderung implizieren: „Das Unaussprechliche auf Deutsch ist der Finanztransfer; das Unaussprechliche auf Französisch ist die Vertragsänderung. Wenn wir langfristig Europa erhalten wollen, werden wir beides brauchen.“
Trotz zweier dramatischer Einschnitte seit 2017 (die Corona-Pandemie und der russische Überfall auf die Ukraine), oder vielleicht gerade deswegen, sind einige von Macrons Träumen teilweise oder wenigstens im Ansatz umgesetzt. Denken wir an das europaweite Kurzarbeit-Programm (SURE) zur Erhaltung der Beschäftigung in der Pandemie, an das Europäische Wiederaufbauprogramm, an den sich konkretisierenden Plan einer Europäischen Arbeitslosenrückversicherung, an die vom Rat der EU angenommene europäische Mindestlohnrichtlinie, an mittlerweile 11 Sanktionspakete der EU gegen Russland, und nicht zuletzt an die europaweite militärische Unterstützung der Ukraine und die schnelle Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge.
Andererseits sind wir von einigen zentralen Vorschlägen Macrons noch Meilen entfernt. Von einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft kann – von bescheidenen Ansätzen abgesehen – nicht die Rede sein; eine gemeinsame europäische Asyl- und Zuwanderungspolitik ist in weiter Ferne, obwohl sie sowohl aus humanitären Gründen als auch zur Deckung des Fachkräftemangels dringend notwendig wäre; eine „strategische Partnerschaft mit Afrika“ ist nicht einmal im Ansatz zu erkennen. Wir sehen eine eurozentrische Pandemiebekämpfung mit den Folgen einer Unterversorgung Afrikas mit Impfstoffen, eine europäische Zinspolitik mit indirekt katastrophalen Auswirkungen auf die hoch verschuldeten afrikanischen Staaten, das Ansinnen von Handelsverträgen, die afrikanische Staaten (wie Senegal) weiter zu Investitionen in nicht erneuerbare Energien (Gas) oder Ressourcenausbeutung (seltene Mineralien, natürliche Düngemittel) ermutigen sollen. All das führte bisher nicht nur zu einer Vertiefung der Entfremdung zwischen Afrika und Europa, die sich beispielsweise in der Zurückhaltung (wenn nicht gar im Unverständnis) vieler afrikanischer Staaten im Ukraine-Konflikt auswirkt; sie stärkte auch den Einfluss von Russland in Afrika, von China ganz zu schweigen.
Macrons Vorstellungen „europäischer Souveränität“ sind jedoch in zweifacher Hinsicht kritisch zu beurteilen. Zum einen fehlt in seiner Rede weitgehend die Forderung nach wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit, zum anderen schafft die Rede von einer europäischen Supermacht kein Vertrauen bei international strategisch wichtigen Partnern. Ohne Stärkung der individuellen Teilhabe aller Europäer und Europäerinnen an den bisher zweifellos großen Erfolgen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft schwindet der politische Rückhalt für außenpolitische Souveränität, und ohne stärkere internationale Solidarität werden europäische Großmachtträume anti-kolonialistische Gefühle nähren oder wieder erwecken.
Vom Dauerthema der Ungleichheit der Geschlechter abgesehen, drückt sich die Ungleichheit in Europa zum Beispiel in hoher Jugendarbeitslosigkeit aus. Nur berufliche Souveränität jedoch erlaubt es jungen Menschen, nicht nur einen würdigen Lebensunterhalt für sich selbst zu verdienen, sondern auch einen guten Teil der gesellschaftlichen Last des digitalen und grünen Strukturwandels zu tragen. Vielen Jugendlichen in Europa, gerade auch in Frankreich, wird dieses Recht auf berufliche Souveränität verwehrt. Ein weiteres Beispiel ist die zunehmende Zahl von zugewanderten Europäern und Europäerinnen. 2019 lebten 23 Millionen Nicht-Europäer legal in der EU (5,1 Prozent der EU-Bevölkerung), 10 Millionen von ihnen mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht. Deren Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Leben wurde nicht zuletzt während der Covid-19-Pandemie deutlich: 13 Prozent der Beschäftigten mit „wesentlichen Funktionen“ (von Ärztinnen bis zu Pflegekräften und Fahrern) waren Migranten. Dennoch wird einem Großteil unter ihnen die Teilnahme an demokratischen Wahlen verwehrt. Bei den letzten Berliner Wahlen zum Abgeordnetenhaus waren beispielsweise 24 Prozent der Bevölkerung im Alter über 18 Nicht-Deutsche und deshalb nicht wahlberechtigt. Ohne weitere massive Zuwanderung wird das Problem des Fachkräftemangels in Europa nicht gelöst, aber ohne eine institutionell abgesicherte „Willkommenskultur“ – etwa durch erleichterte Einbürgerungsverfahren – wird Europa kein beliebtes Ziel für nicht europäische Fachkräfte werden. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament bemühen sich zwar schon seit längerem um eine neue Direktive zur Klärung des Aufenthaltsstatus von Zugewanderten. In den Diskussionen und mühselig ausgehandelten Kompromissen der jüngsten Vorschläge spiegelt sich aber nach wie vor der traurige Tatbestand, dass ein Großteil der Bevölkerung vieler Länder – Deutschland eingeschlossen – in „Ausländern“ immer noch eher eine Belastung als eine Bereicherung sieht.
Macrons Visionen von einem „souveränen Europa“ sind heute noch aktuell, auch wenn sein neuester Traum von einer „dritten Supermacht“ zu kritisieren ist. Vor allem umschrieb Macron damals die „wahre“ Identität Europas in einer Weise, die Enzensbergers sehnsüchtigem Ausruf „Ach Europa!“ sehr nahekommt. Nicht in militärischer Stärke – auch wenn sie in der heutigen geopolitischen Lage leider unentbehrlich ist – wird sich das „souveräne Europa“ nachhaltig weiterentwickeln. Sich der Herausforderung der kulturellen Diversität in Europa zu stellen, auf der Basis umfassender Bildung für alle und sprachlicher wie räumlicher Agilität, könnte ein Projekt sein, für das sich auch die europäische Jugend begeistern könnte. Macron sprach an der Sorbonne von der ungeheuren Diversität europäischer Sprachen. Eine Diversität, die sich jeder vollständigen Übersetzung widersetzt, die aber bisher kein Hindernis für die europäische Einigung war. Im Gegenteil, in diesem sprachlichen Chaos sah Macron – wie Enzensberger – gleichsam den Generalschlüssel europäischer Identität: „Denn der europäische Sisyphos muss immer noch sein Unübersetzbares vor sich her rollen. Doch dieses Unübersetzbare ist unsere Chance! Es ist Teil des Mysteriums in jeder und jedem von uns und es ist Teil des Vertrauens in das europäische Projekt. Es ist die Tatsache, dass wir, die wir nicht dieselbe Sprache sprechen und diesen Teil unbekannter und unüberwindbarer Differenz besitzen, zu einem bestimmten Zeitpunkt beschließen, gemeinsam zu arbeiten, obwohl wir uns hätten trennen können. Ich bekenne mich zu diesem Teil unübersetzbarer, unüberwindbarer Differenz, weil ich mir einen glücklichen Sisyphos vorstellen möchte. Schließlich ist die Demokratie die Essenz des europäischen Projektes. Ich sage sogar, dass sie seine größte Stärke, sein Grundnahrungsmittel ist.“
Wie schön wäre es, wenn wir uns – statt von Covid 19 – von diesem Enthusiasmus anstecken ließen. Die Frage ist, ob wir dazu bereit sind: Ach, Europa!?
Eine englische Version des Textes ist hier verfügbar.
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Das Bild zeigt den französischen Präsidenten Emmanuel Macron vor dem Europäischen Parlament in Straßburg am 17. April 2018.
08.05.2023