Diskutiert!
Zum Artikel "Widersprüchliche Signale" von Christian Rauh und Johannes Scherzinger in den WZB-Mitteilungen Nr. 176 erreichte uns ein Leserbrief, den wir hier im Wortlaut veröffentlichen, gefolgt von einer Replik der Autoren.
Leserbrief von Jörg Becker
Solingen, 9.7.2022
Sehr geehrte Herren Rauh und Scherzinger,
ich habe erhebliche methodische Probleme bei Ihrem Artikel „Widersprüchliche Signale“ (WZB-Mitteilunngen 2/22) in dem Sie von „früheren russischen Aggressionen“ bei den „brutalen Interventionen in Georgien und Syrien“ ausgehen.
1. Wie der sog. Tagliavini-Report der EU-Kommission von 2009 (Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia) auf Seite 19 im 1. Berichtsband feststellt, ging im Krieg zwischen Georgien und Russland die militärische Aggression in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 eindeutig von Georgien aus. In Georgien gab es also 2008 weder eine russische Aggression noch eine Intervention.
2. Laut UN-Charta darf ausländisches Militär in einem fremden Land unter zwei Bedingungen aktiv werden, nämlich dann, wenn a) der UN-Sichrheitsrat dem zustimmt oder b) eine völkerrechtlich allgemein anerkannte Regierung das Militär eines anderen Landes um Hilfe bittet. Genau das tat die Regierung Assad im September 2015, als sie den russischen Präsidenten Putin um militärischen Beistand bat. Vgl. dazu die korrekte Pressemeldung der englischen Nachrichtenagentur Reuters: https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-syria-putin-idUSKCN0RU17Y20150930. In Syrien gab es also 2015 weder eine russische Aggression noch eine Intervention sondern eine völkerrechtskonforme Militärhilfe Russlands an Syrien.
Mit anderen Worten: Sie subsumieren unter einunddselbem Begriff „Intervention“ unterschiedliche Phänomene, setzen also nicht miteinander vergleichbare Dinge in einen Vergleich. Somit sind Ihre Vergleiche ohne Sinn.
3. Sie analysieren in Ihrer Arbeit Regierungsreden vor der UN-Vollversammlung. Dabei gehen Sie unkritisch von den Selbstwahrnehmungen von Regierungen aus und unterstellen mit ihnen, dass deren Reden vor der UN-Vollversammlung „wertvolle Informationen über die Konsistenz und Stärke der Signale von der EU an Russland“ enthalten. Ihre Annahme mag richtig sein oder auch nicht. Meine eigenen Analysen von Regierungserklärungen im Deutschen Bundestag ergaben, dass es sich hierbei oft um inhaltsleere Rituale handelt, deren Inhalte völlig unwichtig sind. Mit anderen Worten: Sie haben in ihrer Arbeit ein nicht-diskutiertes Validitätsproblem.
Freundlichst, Ihr
Prof. Dr. Jörg Becker.
Antwort von Christian Rauh und Johannes Scherzinger, 13.7.2022
Sehr geehrter Herr Becker,
vielen Dank für Ihre intensive Auseinandersetzung mit unserem Beitrag in den WZB Mitteilungen 2|22 und für Ihre Kritik daran, zu der wir hier erklärend Stellung nehmen wollen.
Die ersten beiden Teile Ihrer Kritik richten sich auf die Frage, ob die Geschehnisse in Georgien (2008) und Syrien (2015) als „frühere russische Aggressionen“ bzw. als „brutale Interventionen“ bezeichnet werden können. Während wir anerkennen, dass die politischen und rechtlichen Bewertungen der Handlungen Russlands in diesen Fällen teilweise auseinandergehen, stehen wir dennoch aus drei miteinander verbundenen Gründen zu der gewählten Formulierung:
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Wir verwenden den Begriff „Intervention“ zunächst genauso wie in der einschlägigen Friedens- und Konfliktforschung (z.B. Benson and Tucker 2022, Beardsley 2013, Claude 1966) – nämlich ohne wertende Bezugnahme darauf, ob die Handlung gut, richtig oder völkerrechtlich legitim ist. Man mag darüber diskutieren, ob die Eingriffe der Russischen Föderation in Georgien und Syrien völkerrechtlich oder in irgendeiner Form (geo-)politisch zu rechtfertigen sind (auch der völkerrechtlich gedeckte und von Ihnen zitierte „militärische Beistand“ wird in politikwissenschaftlicher Literatur als Intervention beschrieben; z. B. Averre & Davies 2015 oder Morris 2013). Solche Bewertungen sind jedoch für unseren vorliegenden Beitrag nicht zentral. Wichtig für uns ist zunächst, dass es eindeutig militärische Eingriffe (= Interventionen) der Russischen Föderation in beiden Konflikten gegeben hat.
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Wir stehen aber ebenso dazu, diese Eingriffe zusätzlich als „brutal“ zu qualifizieren. In beiden Fällen sind – teilweise organisierte – Übergriffe auf die Zivilbevölkerung journalistisch, zivilgesellschaftlich und auch juristisch dokumentiert (vgl. z.B. ECHR Urteil 38263/08 zu Georgien oder Bericht A/HRC/43/57 für den UN Menschrechtsrat zu Syrien).
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Zuletzt bewerten wir diese Eingriffe zumindest relativ auch als „Aggressionen“, da sie sich in beiden Fällen sehr explizit gegen die vorab erklärten außenpolitischen Ziele der Europäischen Union richteten (z. B. wiederholte EU-Statements zur territorialen Integrität Georgiens vor Ausbruch des Kaukasuskrieges, Sanktionierung der Assad Regierung). Auch diese außenpolitischen Positionierungen der EU lassen sich ggf. unterschiedlich bewerten. Für uns ist aber relevant, dass sich Russland mit militärischen Mittel explizit gegen die EU positioniert hat, was aus Sicht der EU – und diese ist das Entscheidende für unseren Beitrag – als Aggression gewertet werden kann.
Vor diesem Hintergrund vergleichen wir die Fälle und wollen wissen, ob die rhetorischen Signale von EU-Mitgliedstaaten an die Weltgemeinschaft in der Folge übereinstimmend kooperativer oder konfliktiver geworden sind – nicht mehr, aber auch nicht weniger ist das Erkenntnisinteresse unseres Beitrages.
Das führt zu Ihrem letzten Kritikpunkt. Auf Basis Ihrer Analysen von Regierungserklärungen im Deutschen Bundestag (die wir bisher noch nicht kennen) argumentieren Sie, dass solche Reden „inhaltsleere Rituale“ sind. Wir stimmen insofern überein, als das Reden vor der UN mit Sicherheit hoch ritualisierte Ereignisse sind. Wir stimmen auch insofern überein, als dass wir nicht glauben, dass Rhetorik notwendigerweise alles über die wahren Präferenzen einer Regierung verrät. Im Gegenteil, Anspruch und Wirklichkeit liegen hier allzu oft weit auseinander. Dennoch sind wir im Einklang mit einschlägiger Fachliteratur (z.B. Kentikelenis und Voeten 2021 oder Baturo et. al 2017) überzeugt, dass systematisch erfasste Variation in der außenpolitischen Rhetorik eines Staates in einem der zentralsten (und gerade auch ritualisiertesten) Forum der Weltpolitik etwas über Änderungen in außenpolitischen Schwerpunktsetzungen und Positionierungen verrät. Die Variation in der Häufigkeit und im Framing der Benennungen von Russland als handelndem Akteur zeigt ja gerade, dass eben nicht immer nur das Gleiche gesagt wird. Nochmals ist hier zu betonen (wie wir das auch im Beitrag selbst tun), dass wir explizit an der Kommunikation von EU-Staaten an die Weltöffentlichkeit interessiert sind und ob diese rhetorischen Signale über Zeit und Ereignisse konvergieren oder divergieren. Vor dem Hintergrund bekannter diskursiver Logiken von Abschreckungspolitik und vor dem Hintergrund einer nur schwach institutionalisierten außenpolitischen Willensbildung der EU halten wir solche rhetorische Signale und deren (fehlende) Konvergenz nach wie vor für hochrelevant – auch wenn sie mit Sicherheit nicht die gesamte außenpolitische Realität abdecken mögen.
Wir danken Ihnen für Ihre Rückmeldung und hoffen, dass wir mit obigen Punkten klären konnten, was wir mit unserem Beitrag sagen wollen, und was eben nicht.
Freundlichst,
Christian Rauh und Johannes Scherzinger
Zitierte Literatur
Baturo A, Dasandi N, Mikhaylov SJ. Understanding state preferences with text as data: Introducing the UN General Debate corpus. Research & Politics. April 2017. doi:10.1177/2053168017712821
Beardsley, Kyle. "The UN at the peacemaking–peacebuilding nexus." Conflict Management and Peace Science 30.4 (2013): 369-386.
Benson, Michelle, and Colin Tucker. "The Importance of UN Security Council Resolutions in Peacekeeping Operations." Journal of Conflict Resolution 66.3 (2022): 473-503.
Claude, Inis L. "Collective legitimization as a political function of the United Nations." International organization 20.3 (1966): 367-379.
Derek Averre, Lance Davies, Russia, humanitarian intervention and the Responsibility to Protect: the case of Syria, International Affairs, Volume 91, Issue 4, July 2015, Pages 813–834, https://doi.org/10.1111/1468-2346.12343
Kentikelenis, A., Voeten, E. Legitimacy challenges to the liberal world order: Evidence from United Nations speeches, 1970–2018. Rev Int Organ 16, 721–754 (2021). https://doi.org/10.1007/s11558-020-09404-y
Morris, Justin, Libya and Syria: R2P and the spectre of the swinging pendulum, International Affairs, Volume 89, Issue 5, September 2013, Pages 1265–1283, https://doi.org/10.1111/1468-2346.12071