Klassenkampf und Terrorismus
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der politischen Exklusion der Armen und der Entstehung des anarchistischen und linken Terrorismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert? Anhand von historischen Daten zeigt Daniel Meierrieks in seinem Beitrag für die Online-Mitteilungen: Die Ausgrenzung der Armen, die Monopolisierung politischer Macht durch reiche Teile der Bevölkerung und Klassengegensätze haben die Entstehung des sozialrevolutionären Terrorismus begünstigt, nicht jedoch Terrorismus, der mit anderen Ideologien wie dem extremen Nationalismus in Verbindung steht. Es gibt einen systematischen Zusammenhang zwischen dem Wirken von sozialen Kräften, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts dominant waren (z. B. Verstädterung, Industrialisierung und Entstehung der Arbeiterklasse), sozialrevolutionären Ideologien, die als Antwort auf diese Entwicklungen formuliert wurden (insbesondere der Anarchismus und Marxismus) und politischer Gewalt. Dieser Zusammenhang hatte sich zuvor eher anekdotisch ableiten lassen.
Der moderne Terrorismus entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Seine Entstehung war begünstigt durch technologische Fortschritte wie die Entwicklung von Dynamit und Handfeuerwaffen, die auch durch militärische Laien bedient werden konnten, sowie Weiterentwicklungen in Kommunikation und Transportwesen (z. B. Entstehung der Massenmedien, des Telegraphenwesens und umfangreicher Eisenbahnnetze), die die propagandistische Reichweite terroristischer Angriffe stark vergrößerten. Zugleich war die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durch umfangreiche soziale und ökonomische Umwälzungen gekennzeichnet, insbesondere eine zunehmende Verstädterung und Industrialisierung, die zur Entstehung einer neuen sozialen Schicht, der Arbeiterklasse, beitrug.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Entstehung des modernen Terrorismus und den sozioökonomischen und politischen Verwerfungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die vor allem die Arbeiterklasse trafen? Diese Fragestellung wollen wir im Folgenden auch unter Berücksichtigung eigener Forschungsergebnisse genauer beleuchten.
Terrorismus bezeichnet den Einsatz von Gewalt durch nicht staatliche Akteure, um politische Ziele durchzusetzen. Wie können wir die Entstehung des sozialrevolutionären Terrorismus aus theoretischer Sicht systematisch mit dem Los der Armen in Verbindung bringen? Auf diese Frage gibt uns die Theorie der rationalen Erwartungen (Rational-Choice-Theorie) eine Antwort. Gemäß diesem Ansatz sind potenzielle Terroristen rationale Akteure, die sich dergestalt zwischen Gewalt (Terrorismus) und Gewaltverzicht (z. B. durch Teilnahme am politischen Prozess) entscheiden, sodass der erwartete Nutzen ihres Handelns maximiert wird. Die Ausgrenzung der Armen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich aus den sozioökonomischen und politischen Verwerfungen dieser Zeit ergab, machte hierbei den Einsatz von Gewalt rational wahrscheinlicher. Mit der Marginalisierung der Armen ging eine Monopolisierung der politischen Macht einher; die Interessen der Reichen wurden in den Mittelpunkt politischen Handelns gestellt. Dies hatte zur Folge, dass der politische Prozess die Anliegen der Armen nur unzureichend berücksichtigte und zugleich die politische Organisation der Armen erschwerte. Gewalt als Mittel zur politischen Einflussnahme wurde so im Vergleich zu dem Verzicht auf Gewalt in Form von politischer Partizipation attraktiver, um auf das Los der Armen aufmerksam zu machen und es mit dem Ziel einer sozialen Revolution zu verbessern.
Sozialrevolutionärer Terrorismus
Betrachten wir die sozioökonomischen und politischen Zustände der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genauer, so deckt sich dieser Blick mit unseren theoretischen Erwartungen. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse waren geprägt von niedrigen Löhnen, Armut, ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnissen, sozialer Entfremdung und fehlender politischer Repräsentation. Als Antwort entstanden Ideen und Ideologien, die das Los der Arbeiterklasse in Begriffe fassen, deuten und Auswege aufzeigen wollten, wobei insbesondere Anarchismus und Marxismus von Bedeutung waren. Beiden ideologischen Strömungen gemein war ihre Ablehnung der bestehenden sozialen Ordnung, die die Reichen über die Armen stellte. Ihr Ziel war, diese Ordnung zu überwinden, entweder durch die Eliminierung sozialer Hierarchien gemäß dem Anarchismus oder deren Umsturz zugunsten der Arbeiterklasse im Sinne des Marxismus. Beide Ideologien lehnten den Einsatz von revolutionärer Gewalt zur Durchsetzung dieser Ziele auch nicht ab. Und tatsächlich griffen in der Folge zahlreiche terroristische Gruppen anarchistische oder marxistische Ideen auf, um ihre Angriffe zu rechtfertigen. Beispielhaft für diesen sozialrevolutionären Terrorismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren die Angriffe der russischen Narodnaya Volya, die 1881 den russischen Zaren Alexander II. ermordete, der Mordanschlag des Anarchisten Caserio auf den französischen Präsidenten Carnot im Jahre 1894 sowie der Bombenanschlag auf die New Yorker Wall Street im Jahr 1920 durch die Galleanisti.
Inspiriert durch diese historische, wenngleich anekdotische Evidenz untersuchen wir in unserer empirischen Studie den Einfluss von fehlender politischer Partizipation der Armen auf die Entstehung des sozialrevolutionärem Terrorismus mithilfe eines Datensatzes von 99 europäischen, amerikanischen und asiatischen Ländern, für die zwischen 1860 und 1950 ausreichend Daten vorliegen. Unsere abhängige Variable misst hierbei die Zahl der sozialrevolutionären (d. h. anarchistischen, marxistischen und weiteren links gerichteten) Terrorgruppen, die in einem bestimmten Land während eines bestimmten Jahres aktiv waren. Wie in Abbildung 1 dargestellt, baute sich die Welle des sozialrevolutionären Terrorismus ab 1880 auf, erreichte kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt, um spätestens in den 1920er- und 1930er-Jahren wieder abzuflauen. In unserer Analyse erklären wir diese Dynamik durch die damalige Ausgrenzung der Armen. Wir erheben diese Ausgrenzung durch einen Index, der die politische Exklusion der Armen misst. Diese Variable beschreibt, inwieweit sich Reichtum und Einkommen in eine ungleiche Verteilung der politischen Macht übersetzten.
Abbildung 1: Aktive Terrorgruppen im Datensatz, 1860-1950, Quelle: Tschantret (2019)
Ein Beispiel für den Einfluss ökonomischer Macht auf die politische Partizipation ist das preußische Dreiklassenwahlrecht, bei dem die politische Repräsentation der reichen Teile der Bevölkerung zulasten der Armen ging. Wie in Abbildung 2 dargestellt, war die politische Exklusion der Armen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs durchaus signifikant.
Abbildung 2: Politische Exklusion der Armen, 1860-1950, Quelle: Varieties of Democracy Dataset
Die Ergebnisse unserer empirischen Studie lassen sich wie folgt zusammenfassen. Erstens zeigen wir, dass ein größeres Ausmaß an politischer Exklusion in der Tat mit vermehrter Aktivität durch sozialrevolutionäre Terrorgruppen einhergeht. Zweitens übersteht dieses Ergebnis eine Vielzahl von Robustheitschecks. Beispielsweise bleibt es auch bestehen, wenn wir den Einfluss von ökonomischer Entwicklung, politischen Institutionen, der Kolonialgeschichte sowie den beiden Weltkriege auf den sozialrevolutionären Terrorismus berücksichtigen, oder wenn wir die Exklusion der Armen durch andere Indikatoren messen. Drittens zeigt unsere Analyse, dass die politische Exklusion der Armen keinen Einfluss auf andere Arten von Terrorismus hatte, die zwischen 1850 and 1950 aufkamen. So gibt es zum Beispiel keinen systematischen Zusammenhang zwischen der politischen Exklusion der Armen und dem antikolonial-separatistischen Terrorismus (z. B. durch die Irish Republican Army im Rahmen des irischen Unabhängigkeits- und Bürgerkriegs) sowie rechtsradikalen Terrorismus (z. B. durch den Ku Klux Klan in den USA). Dieses Ergebnis deckt sich mit unserer Erwartung, dass Klassengegensätze insbesondere für jene militanten (sozialrevolutionären) Gruppen von Bedeutung sind, deren ideologische Orientierung ökonomische Ungleichheit und die fehlende politische Partizipation der Armen zum Ziel hat.
Unsere empirischen Ergebnisse zeigen zum einen das systematische Zusammenspiel von sozioökonomischen und politischen Bedingungen (in Form von Ungleichheit und politischer Exklusion), politischer Ideologie und der Entstehung terroristischer Gewalt in der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Zugleich sind diese Ergebnisse aber nicht nur aus historischer Sicht wertvoll. So sind die Jahrzehnte seit Ende des Kalten Krieges von einer wieder stärkeren Konzentration von Einkommen und Vermögen in den Händen weniger Superreicher sowie einer Diskussion über die mögliche Unterminierung demokratischer Institutionen durch diese Konzentration geprägt. Zugleich gewinnen die sozialrevolutionären Ideen des 19. Jahrhunderts, insbesondere der Sozialismus, unter jungen Menschen an Zuspruch. Diese Entwicklungen könnten darauf hindeuten, dass in Zukunft auch wieder verstärkt sozialrevolutionär geprägter Terrorismus als „Antwort“ auf sich wieder entwickelnde Klassengegensätze auftreten könnte.
Die Abbildung zeigt die Zuteilung von Feldern zum Anbau von Kartoffeln an arme Familien in Preußen im 19. Jahrhundert.
Literatur
Aidt, Toke S./Jensen, Peter S.: „Workers of the World, Unite! Franchise Extensions and the Threat of Revolution in Europe, 1820-1938“. In: European Economic Review, 2014, Jg. 72, S. 52-75.
Geifman, Anna: Thou Shalt Kill: Revolutionary Terrorism in Russia, 1894-1917. Princeton: Princeton University Press 1995.
Jensen, Richard B.: The Battle Against Anarchist Terrorism: An International History, 1878-1934. Cambridge: Cambridge University Press 2014.
Meierrieks, Daniel/Krieger, Tim/Klotzbücher, Valentin: „Class Warfare: Political Exclusion of the Poor and the Roots of Social-revolutionary Terrorism, 1860-1950“. In: Defence and Peace Economics, 2021, Jg. 32, H. 6, S. 681-697.
Tschantret, Joshua: „The Old Terrorism: A Dataset, 1860-1969“. In: International Interactions, 2019, Jg. 45, H. 5, S. 933-948.
21.6.22
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