Wer als „fremd“ gilt
Fast 100.000 Pressemitteilungen von Regierungen aus vier Ländern und der EU selbst haben Tobias Heidenreich und Olga Eisele unter die Lupe genommen. Sie wollten wissen, wie politische Eliten über Zuwandernde und Geflüchtete sprechen. Ihr Befund: Es gibt große Unterschiede darin, wer als „große Bedrohung“ und wer als „sozial schwach“ beschrieben wird. Das aber kann große Folgen für die einzelnen Gruppen und die öffentliche Stimmung in der EU haben.
Migration ist ein Thema, das Europa und insbesondere die Europäische Union schon immer bewegt hat, nicht erst seit den Migrationsbewegungen im Jahr 2015. Im Zuge der EU-Osterweiterung in den Jahren 2004 und 2007 wurde die Migration zwischen verschiedenen EU-Ländern heftig diskutiert, aber auch die Zuwanderung aus anderen Teilen der Welt in die Europäische Union hat den öffentlichen Diskurs und die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der EU und ihrer Mitglieder mitgeprägt. Von der Ära der „Gastarbeiter*innen“ in den 1960er- und -70er-Jahren zu verschiedenen Phasen der EU-Erweiterung drehen sich Auseinandersetzungen unter anderem um die Öffnung der Arbeitsmärkte für Menschen aus Osteuropa und später um die zunehmende Einwanderung, die der Bürgerkrieg in Syrien auslöste. In jüngster Zeit zwingt der Krieg in der Ukraine Menschen zur Flucht in andere europäische Länder.
Das Schengen-Abkommen ist eine der größten und am meisten geschätzten Errungenschaften der Europäischen Union: Bürgerinnen und Bürger können sich nicht nur frei zwischen den Ländern bewegen, sie können auch in anderen Ländern leben und arbeiten. Durch die Schaffung eines solchen grenzfreien Raums innerhalb der EU stieg die Bedeutung der EU-Außengrenzen – sie trennen die „Festung Europa“ vom Rest der Welt. Diese Außengrenzen zu sichern, ist seit Langem eine Herausforderung, deren Aufteilung unter den Mitgliedsstaaten heftig diskutiert wird. Aber auch der grenzenlose Schengen-Raum selbst hat ein brüchiges Fundament, da Mitgliedsstaaten gerade in Krisenzeiten einseitig Grenzen schließen und die Freizügigkeit nachhaltig einschränken können. Dies ist besonders kritisch zu sehen, nicht zuletzt seit dem Aufstieg nationalistischer Kräfte in der gesamten EU, die Migration als Vehikel für ihre ausgrenzende Politik nutzen und Sicherheitsbedenken und negative Stereotypen von Einwanderern als Kriminelle oder Terroristen stark machen. Diese Stimmen beeinflussen auch den öffentlichen Diskurs und die Kommunikation anderer politischer Eliten. Das ist insofern problematisch, als Politikerinnen und Politiker gemeinhin als vertrauenswürdige Quellen gelten, die wahre Informationen zu komplexen politischen Themen liefern. Mit schwindendem Vertrauen in Nachrichten und zunehmender Nutzung sozialer Medien, über die ein öffentliches Publikum direkt zu erreichen ist, können so ablehnende Einstellungen gegenüber Einwandernden verstärkt werden. Darüber hinaus spielen politische Eliten, insbesondere solche mit wichtigen Funktionen und Mandaten, eine wesentliche Rolle beim Entstehen von Nachrichten. Ihnen wird Nachrichtenwert zugesprochen, sie prägen Themen der öffentlichen Auseinandersetzung durch ihre Kommunikationsstrategien. Die Forschung zeigt eine enge Wechselbeziehung zwischen der Agenda politischer Akteure und den Nachrichten, die wiederum beeinflussen, wie und wie viel wir uns mit politischen Themen beschäftigen. Es überrascht nicht, in Studien zu sehen, dass die Einstellung gegenüber Migrant*innen beispielsweise von ihrer Sichtbarkeit in den Nachrichten geprägt wird. Es ist daher wichtig, die Kommunikation der politischen Eliten genauer zu betrachten, da diese die öffentliche Meinung entscheidend beeinflusst.
Anhand von Pressemitteilungen der nationalen Regierungen von vier europäischen Ländern sowie der EU-Ebene beleuchten wir die Darstellung ethnischer Gruppen. Wir wollen wissen, wie politische Amtsträger*innen möglicherweise dazu beitragen, ein feindseliges öffentliches Klima gegenüber bestimmten Gruppen zu schaffen. In diesem Beitrag konzentrieren wir uns dafür auf die stereotype Darstellung ethnischer Gruppen in der öffentlichen Kommunikation, die Anne C. Kroon und Co-Autor*innen anhand der beiden Dimensionen „niedriger Status“ und „hohe Bedrohung“ untersucht haben – zwei Schlüsselaspekte in der Forschungsliteratur. Wir haben fast 100.000 Pressemitteilungen der EU sowie der nationalen Regierungen (einschließlich der jeweiligen Ministerien) von Österreich, Deutschland, Irland und dem Vereinigten Königreich aus den Jahren 2012 bis 2020 untersucht. Um die beiden Dimensionen zu messen und die Intensität der stereotypen Darstellung zu ermitteln, verwenden wir „Word Embedding“-Modelle: Gemessen wird die semantische Distanz zwischen Wörtern, die zur Beschreibung einer Gruppe verwendet werden, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite Wörtern, die mit „niedrigem Status“ (über Aspekte wie Armut oder Arbeitslosigkeit) oder aber mit „hoher Bedrohung“ (hier liegt der Schwerpunkt auf sicherheitsrelevanten Aspekten wie Kriminalität oder Gewalt) assoziiert werden. Die Gruppen in unserer Analyse sind explizit genannte ethnische Gruppen, die einen großen Teil der im Ausland geborenen Bevölkerung in den einzelnen Ländern der EU ausmachen, sowie nicht explizit genannte Gruppen von Migrantinnen und Migranten. In der ersten Abbildung zeigen wir, wie sich der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gruppen und den beiden Dimensionen im Durchschnitt darstellt, über die verschiedenen Länder beziehungsweise die EU-Ebene und den untersuchten Zeitraum hinweg. Für die bessere Übersichtlichkeit fassen wir einzelne Gruppen nach geografischer und kultureller Nähe zusammen, achten aber auch auf die inhaltliche Ähnlichkeit anhand der gemessenen Dimensionen.
Abb. 1: Ethnische Gruppen und Zuschreibungen
Die obenstehende Abbildung zeigt als Vergleichswert eine „Ingroup“, also die Gruppe der im Inland geborenen Bevölkerung. Diese wird am wenigsten mit „niedrigem Status“ und „hoher Bedrohung“ in Verbindung gebracht. Bei den anderen Gruppen gibt es große Unterschiede im Blick auf Stereotype. Bürgerinnen und Bürger aus jeweils anderen europäischen Ländern werden nicht so sehr mit einem niedrigen Status in Verbindung gebracht wie andere Gruppen, schneiden aber in der Dimension „hohe Bedrohung“ im Vergleich zu Menschen aus Indien und Pakistan oder zur Kategorie „Geflüchtete“ ähnlich ab. In den Daten zeigt sich, dass dies an osteuropäischen Ländern wie Polen oder Serbien liegt und dass für diese Gruppe die Dimension „hohe Bedrohung“ eher mit Kriminalität assoziiert wird als mit Terrorismus.
Interessant ist außerdem der Unterschied zwischen Menschen aus Indien und Pakistan einerseits und aus Marokko, Syrien und der Türkei auf der anderen Seite. Beide Gruppen schneiden in Bezug auf die Dimension „hohe Bedrohung“ ähnlich ab, Marokkaner, Syrerinnen und Türken werden aber deutlich stärker mit „niedrigem Status“ in Verbindung gebracht. In Großbritannien sind die Vorbehalte gegenüber Inderinnen und Pakistanern relativ gering, was mit historischen Verbindungen und der Tatsache zusammenhängen könnte, dass die Einwanderung aus beiden Ländern nach Großbritannien eine lange Tradition hat. Die andere Gruppe (also Marokkaner, Syrer und Türken) wird besonders in österreichischen Pressemitteilungen stark mit negativen Stereotypen, vor allem im Blick auf den sozialen Status, verbunden.
Schließlich offenbaren die Ergebnisse einen markanten Unterschied: Geflüchtete werden insgesamt weniger stereotyp beschrieben als andere Einwandernde. Der Unterschied auf der Skala „niedriger Status“ ist nicht groß, bezüglich der „hohen Bedrohung“ aber schon: Die Gruppe der Geflüchteten wird als nicht annähernd so gefährlich dargestellt wie die allgemeine Gruppe der Migrant*innen. Diese Gruppe wird mehr als jede andere mit „hoher Bedrohung“ assoziiert. Das mag auf dem Unterschied beruhen, dass Geflüchtete vor den schwerwiegenden Folgen beispielsweise eines Krieges in ihrem Heimatland fliehen, während übergreifende Begriffe wie „Immigranten“ keine Kontextualisierung enthalten. Dieser Begriff scheint stärker losgelöst von dahinterstehenden Individuen verstanden zu werden, da er weder mit Emigrationsgründen noch mit ethnischen Kontexten in Verbindung gebracht wird. Dies könnte dazu führen, dass eine Verbindung mit stereotypen Darstellungen näher liegt.
Die zweite Abbildung zeigt die Veränderungen im Zeitverlauf. Wir untersuchen die Dynamik der stereotypisierten Darstellung ethnischer Gruppen in Pressemitteilungen, betrachten dafür nur noch die nicht näher benannten Migrantengruppen und legen die beiden Dimensionen zusammen. Wir achten also auf Begriffe wie „Einwanderer/Einwanderin“ oder „Ausländer/Ausländerin“, aber nicht auf Wörter, die sich explizit auf einzelne ethnische Gruppen beziehen. Das ermöglicht uns, die Zahlen über die verschiedenen Länder und Ebenen am besten zu vergleichen. Die folgende Abbildung zeigt interessante Dynamiken – trotz im Einzelnen abweichender Muster.
Abb. 2: Entwicklung der Häufigkeit von Stereotypen in verschiedenen europäischen Ländern
Erstens gibt es in allen Kommunikationsbemühungen – außer auf EU-Ebene – eine Zunahme stereotyper Darstellungen von Migranten nach 2015. Der starke Zuwachs der Flüchtlingszahlen in jenem Jahr führte zu hitzigen öffentlichen Debatten; entsprechend scheinen auch Regierungsstellen Migrantinnen und Migranten in einen Zusammenhang mit niedrigem sozialem Status und Sicherheitsbedenken gebracht zu haben.
Für Großbritannien ist 2016 ein deutlicher Ausschlag zu beobachten, der mit dem Brexit-Referendum zusammenfällt. Migration war ein heißes Thema im Konflikt zwischen den beiden Lagern, die entweder einen Austritt Großbritanniens aus der EU oder einen Verbleib befürworteten. Die Regierung – seit 2010 in der Hand der Konservativen – könnte in diesem Zusammenhang Migranten unvorteilhaft dargestellt haben, um Stimmung für eine restriktivere Politik zu machen, die „die Kontrolle über die Grenzen zurückgewinnen“ sollte. Der Höhepunkt findet sich jedoch um das Jahr 2019 – ein Jahr, in dem erneut stark über den Brexit, die Grenzen zwischen Irland und Nordirland und den Status von EU-Einwandererinnen gerungen wurde.
Pressemitteilungen aus Österreich sind im Vergleich fast durchgängig am stärksten von Stereotypen in Bezug auf Migranten geprägt. Dies spiegelt langjährige nationalistische Tendenzen mit einer starken extremen Rechten wider, die zwischen 2017 und 2019 an der Regierung beteiligt war – einer Periode, die einen noch höheren Grad an stereotyper Sprache aufweist.
Ein Silberstreif am Horizont könnte es sein, dass die verwendete Sprache gegen Ende des untersuchten Zeitraums insgesamt weniger stereotyp geworden ist. Besonders stark ist der Rückgang in Irland, in geringerem Maße ist er aber auch in den anderen Ländern und auf EU-Ebene zu verzeichnen. Die Pressemitteilungen der EU scheinen relativ stabil zu sein, wenn es um die Darstellung von Migranten geht. Hier ergibt der Vergleich der Kurven, dass EU-Beamte ziemlich konsequent und vergleichsweise weniger voreingenommen in ihrer Kommunikationsstrategie sind.
Diese kurze Analyse von Sprachmustern in Pressemitteilungen zeigt, wie relevant die Kommunikation der Eliten über Migration ist. Diskurse zu Migration zu analysieren, hilft dabei zu verstehen, wie in der öffentlichen Meinung die Grenzen zwischen In- und Outgroups gezogen werden, wie also bestimmt wird, wer als „eine*r von uns“ wahrgenommen wird und wer als „fremd“. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die einzelnen ethnischen Gruppen.
Das Mehrebenensystem der EU besteht aus Ländern, die sich für ein gemeinsames Friedensprojekt entschieden haben. Unsere Analyse deutet darauf hin, dass verschiedene Darstellungen von Migrantinnen- und Migranten-Gruppen nicht nur mit verschiedenen Wahrnehmungen der einzelnen (ethnischen) Gruppen, sondern auch mit politischen Interessen in den einzelnen Ländern zusammenhängen. Gemeinsame Positionen sind von nationalstaatlichen Interessen bedroht, die sich bereits in sprachlichen Mustern erkennen lassen. Es überrascht nicht, dass Migranten von außerhalb der EU eher als Bedrohung wahrgenommen werden, dass aber erzwungene Migration, zum Beispiel im Fall von Flüchtlingen, als weniger bedrohlich angesehen wird. Im Hinblick auf den andauernden Krieg in der Ukraine ist daher zu erwarten, dass negative Stereotype ein Stück weit durch Motive von Bedürftigkeit und Empathie aufgewogen werden: Diese Migrationsbewegung ist ganz offensichtlich nicht freiwillig.
Ein weiteres interessantes Muster, das sich in unseren Ergebnissen zeigt, betrifft die Verwendung von Stereotypen in der Amtssprache der EU. In den Institutionen kommen alle Nationalitäten der Union zusammen, und die EU hat ziemlich konkrete Richtlinien im Blick auf Vielfalt oder Diskriminierung. Sie fungiert als Dach für ihre 27 Mitglieder und sucht oft den kleinsten gemeinsamen Nenner. Es liegt also nahe, dass die Kommunikation der EU insgesamt weniger voreingenommen ist als in den Einzelstaaten. Und doch ist es ein positives Indiz dafür, dass die EU ein Gegengewicht zum wachsenden Nationalismus in Europa sein könnte.
Literatur
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Eisele, Olga/Heidenreich, Tobias/Boomgaarden, Hajo G.: x-pr: A Dataset of 12 Years of eXecutives’ Press Releases (SUF edition). AUSSDA. 2022. https://doi.org/10.11587/MUDDDT.
Kroon, Anne C./Trilling, Damian/Raats, Tamara: „Guilty by Association: Using Word Embeddings to Measure Ethnic Stereotypes in News Coverage“. In: Journalism & Mass Communication Quarterly, 2021, Jg. 98, H. 2, S. 451-477. https://doi.org/10.1177/1077699020932304.
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Nisbet, Matthew C.: Agenda Building. The International Encyclopedia of Communication, 2008, 1, 140-145. https://doi.org/10.1002/9781405186407.wbieca035.
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28.03.2023