Der syrische Flüchtling Rateb übt Deutsch mit seinem Lehrer.
Heinrich Völkel/Ostkreuz

Zusammenwachsen

Das Engagement für Geflüchtete stärkt auch die aufnehmende Gesellschaft

Viel ist von gesellschaftlicher Spaltung die Rede in den wirtschaftlichen und politischen Konfliktlagen der Gegenwart. Gerade die Zuwanderung scheint den Zusammenhalt auf eine harte Probe zu stellen. Doch nicht immer mit negativem Ausgang, wie Clara van den Berg zeigen kann.

Im Jahr 2015 erreichte die Zuwanderung nach Deutschland einen Höhepunkt. Vor allem in Folge des Bürgerkriegs in Syrien kamen über eine Million Schutzsuchende ins Land. Von „Flüchtlingskrise“ war die Rede – wir sprechen vom „langen Sommer der Migration“. Die Gesellschaft war in Bewegung: Zahlreiche Menschen engagierten sich für und mit Geflüchteten. Deutschland erlebte einen für die Nachkriegszeit beispiellosen Aktivierungsschub. Etwa sechs Prozent der Bevölkerung, also rund fünf Millionen Menschen, waren in der lokalen Geflüchtetenhilfe aktiv. Ähnliche Entwicklungen wurden ab 2020 beobachtet, als Menschen aus der Ukraine nach Westen flohen.

Im Forschungsprojekt „Die aktivierte Zivilgesellschaft“ habe ich mit Kolleg*innen einen qualitativen Vergleich zwischen vier deutschen mittelgroßen Städten vorgenommen. Unser Fokus lag auf der Vernetzung zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gruppen, die sich während des langen Sommers der Migration um 2015 in der Geflüchtetenhilfe engagierten; die Beobachtung erstreckte sich aber bis ins Jahr 2021. Wir interviewten über 80 Freiwillige, Aktivist*innen und hauptamtliche Mitarbeiter*innen von Initiativen, Sportvereinen, Kirchengemeinden, migrantischen Vereinen, Wohlfahrtsverbänden und zahlreiche weitere lokale zivilgesellschaftliche Akteure. Die Interviews fanden zwischen 2020 und 2022 statt und konzentrierten sich rückblickend auf Schlüsselmomente wie die Aktivierungsphase um 2015, den Rückgang des Engagements 2017 und den Beginn der Pandemie 2020. Die Interviewpartner*innen gaben Einblicke in den Austausch untereinander und wie sich dieser im Lauf der Jahre entwickelte. Um die Verbindungen und Kooperationen zwischen den Organisationen zu verstehen, führten wir basierend auf den Interviews organisationszentrierte Netzwerkanalysen durch. Durch diese Analysen erfassten wir die Netzwerkverbindungen aller interviewten Vereine und Initiativen und deren Veränderungen.

Für unsere Studie suchten wir vier deutsche Städte heraus, denen wir aus ethischen Gründen fiktive Namen gaben, um dem Wunsch vieler Interviewter nach Anonymität nachzukommen: Wir nennen die Fallstädte Lauda (im Süden), Loburg (im Osten), Altenau (im Norden) und Neheim (im Westen). Überall war zu beobachten, dass sich die verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen während des langen Sommers der Migration verstärkt miteinander vernetzten. Diese Netzwerke entstanden, um Nothilfe zu koordinieren, sich gegenseitig zu unterstützen und Konflikte zu lösen. Gemeinsam traten sie auch an die Öffentlichkeit, um Ängsten der lokalen Bevölkerung zu begegnen, beispielsweise durch Bürgerversammlungen, die häufig in Zusammenarbeit mit den lokalen Verwaltungen organisiert wurden. In der Ad-hoc-Aktivierung von Freiwilligen kam es also zur Gründung neuer Initiativen und einer intensiveren Interaktion sowie Vernetzung verschiedener zivilgesellschaftlicher Akteure.

Mit Blick auf den Aktivierungsschub interviewten wir auch Vereine und Initiativen aus kleineren Nachbarstädten und -dörfern unserer Fallstädte – auch dort engagierten sich zahlreiche Freiwillige in Asylunterkünften. Dabei entstanden informelle Gruppen, die Hilfeleistungen wie Deutschunterricht, Kleiderspenden, Kinderbetreuung und bürokratische Unterstützung koordinierten. Zudem wurden zahlreiche Unterstützerkreise und Willkommensinitiativen ins Leben gerufen. Nicht nur Einzelpersonen, sondern auch zahlreiche bestehende Vereine aus den Bereichen Sport, Bildung und Jugendarbeit sowie Verbände, Flüchtlingsräte und Aktionsbündnisse beteiligten sich aktiv an der Geflüchtetenhilfe.

Im Lauf der Zeit ergaben sich allerdings in den vier Städten unterschiedliche Entwicklungen. Während das Engagement und die verstärkten Interaktionen untereinander in Altenau und Neheim nach dem Jahr 2016 wieder abebbten, hatten sie in Loburg und Lauda, also in den Fallstädten im Osten und im Süden Deutschlands, Bestand. In diesen Städten bildeten sich nachhaltige Gemeinschaften aus Freiwilligen, Aktivist*innen, Vereinen und Gruppen, die seit der ersten Aktivierung im Jahr 2015/16 intensiver miteinander verbunden sind als vorher.

Die entstandenen zivilgesellschaftlichen Gemeinschaften in diesen beiden Städten zeichnen sich durch die Entstehung und Verstetigung intensiver Netzwerke zwischen den Organisationen und Gruppen aus, die sich um 2015 und 20,16 sowie den darauffolgenden Jahren im Bereich Flucht und Migration engagierten. Durch die gemeinsamen Erfahrungen in der Geflüchtetenhilfe verdichteten sich ihre Verbindungen. Dichtere Verbindungen bedeuten, dass diese Akteure regelmäßiger miteinander in Kontakt stehen und ihren Kontakt zu anderen Organisationen als enger bewerten als vor 2015.

Die engeren Verbindungen manifestieren sich in verschiedenen Interaktionsformaten, die die zivilgesellschaftlichen Gemeinschaften in beiden Städten regelmäßig zusammenbringen. Diese Veranstaltungen umfassen sowohl Aktivitäten zur Kernarbeit der lokalen Geflüchtetenhilfe als auch politische Lobbyarbeit zu Asyl und Migration sowie Aktivitäten zu verwandten Themen wie Antirassismus und dem Kampf gegen regionalen Rechtsextremismus.

Die Aktivitäten im Rahmen der Kernarbeit in der Geflüchtetenhilfe umfassen informelle Treffen, Sprachkurse, Feste in den Nachbarschaftscafés, Sommerfeste und Feiern in den Asylunterkünften. In dieser Zeit entstanden Bekanntschaften und auch Freundschaften zwischen Freiwilligen und Geflüchteten, die über Jahre hinweg bestanden. Diese Formen der Interaktion tragen dazu bei, die Kerngruppen an Freiwilligen, die täglich direkt mit Geflüchteten arbeiten, zu festigen und den Austausch zwischen diesen Freiwilligen zu fördern.

Die Interaktionsformen der politischen Lobbyarbeit zu Asyl und Migration beinhalten politische Veranstaltungen wie sogenannte Asylgipfel, Expertengruppen zum Thema Integration oder Sitzungen von „Migrationsräten“. Hier geht es darum, auf politischer Ebene Einfluss zu nehmen und die Anliegen der Geflüchteten und ihrer Unterstützer*innen zu vertreten.

Diese zivilgesellschaftlichen Gemeinschaften beschränken sich nicht nur auf das Thema Geflüchtetenhilfe, sondern erweitern ihre Aktivitäten auf neue Integrationskonzepte, den Kampf gegen Rassismus und die Lage von Geflüchteten im Mittelmeer. Die Interaktionsformate in dieser Kategorie zielen darauf ab, Engagierte im Bereich Migration mit Freiwilligen und Aktivist*innen aus anderen Politikfeldern zusammenzubringen. Hierbei handelt es sich oft um Demonstrationen und Kundgebungen – Aktivitäten, die in der Zivilgesellschaft zum Protestrepertoire gehören.

Oft wird die Befürchtung formuliert, dass Migration zu Spaltung in den aufnehmenden Gesellschaften führt. Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass das nicht zwangsläufig der Fall ist. Im Gegenteil: Lokale Zivilgesellschaften können eine entscheidende Funktion für den Zusammenhalt übernehmen. Einzelne Gruppen wachsen nicht nur untereinander enger zusammen, sie agieren darüber hinaus auch als Vermittler in Konflikten. Die Gruppen, die zwischen 2015 und 2021 entstanden sind, sehen sich oft Anfeindungen von rechts ausgesetzt und müssen sich rechtfertigen. Der Einsatz für Migration ist in Zeiten skeptischer Stimmungen nicht leicht. Doch gerade weil das Konfliktpotenzial so groß ist, lassen sich aus unserer Forschung wichtige Implikationen für politische Maßnahmen ableiten.

Besonders in Zeiten, in denen der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt und demokratische Gesellschaften in Gefahr sind, ist es essenziell, die Zivilgesellschaft, gerade auch lokal, zu stärken. Dies kann durch finanzielle Unterstützung für Projekte, die Bereitstellung von Räumen für Engagement (insbesondere in Zeiten steigender Mieten) und die aktive Unterstützung durch lokale Verwaltungen geschehen. In den Städten Loburg und Lauda, in denen die zivilgesellschaftlichen Gemeinschaften zwischen 2015 und 2021 gestärkt wurden, spielten Politiker*innen und Engagierte in den Verwaltungen eine entscheidende Rolle.

Der Schulterschluss zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft war ein bedeutender Schritt und ist entscheidend für die Zukunft einer aktiven Zivilgesellschaft. Der Zivilgesellschaft wiederum kommt zentrale Bedeutung im Umgang mit Migration zu. Unsere Forschung unterstreicht die Notwendigkeit, zivilgesellschaftliche Gruppen als unverzichtbare Akteure für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu unterstützen. Solche Unterstützung auf unterschiedlichsten Ebenen ist eine Investition in eine demokratische und inklusive Gesellschaft, in der Vielfalt als Stärke betrachtet wird. 

Literatur

Alscher, Mareike/Priller, Eckhard/Burkhardt Luise: 9.5 „Zivilgesellschaftliches Engagement“. In: Datenreport 2018. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. 2018. Online hier (Stand 21.12.2023).

Berg, Clara van den/Grande, Edgar/Hutter, Swen: „Was wird aus dem harten Kern? Auswirkungen der Corona-Krise auf das Engagement für Geflüchtete“. In: Voluntaris –Zeitschrift für Freiwilligendienste und Zivilgesellschaftliches Engagement, 2020, Jg. 8, H. 2, S. 226-242.

Höltmann, Gesine/Hutter, Swen/Rößler-Prokhorenko, Charlotte: Solidarität und Protest in der Zeitenwende: Reaktionen der Zivilgesellschaft auf den Ukraine-Krieg. WZB Discussion Paper ZZ 2022-601. Berlin: WZB 2022.

Schiffauer, Werner/Eilert, Anne/Rudloff, Marlene (Hg.): So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch: Bedingungen für die nachhaltige Projektarbeit mit Geflüchteten: eine Bilanz. Kultur und soziale Praxis. Bielefeld: transcript Verlag 2018.

Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

27.12.23

Hier finden Sie das PDF zum Beitrag.