Achterbahn
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Wie Mangel an Gewissheit die kognitiven Funktionen beeinflusst

Ein Beitrag von Agne Kajackaite

„Mangel beeinträchtigt die kognitiven Ressourcen von Menschen”, behaupten und zeigen die amerikanischen Verhaltenswissenschaftler Sendhil Mullainathan und Eldar Shafir in ihrem Buch Scarcity: Why Having too Little Means so Much [1]. Lassen Sie mich veranschaulichen, was dieser abstrakte Satz bedeutet. Wie oft denken Sie an einen geliebten Menschen, der krank ist? Und wie gut gelingt es Ihnen, daneben alles andere in Ihrem Leben zu bewältigen? Wahrscheinlich werden Sie Ihre ganze Energie auf den geliebten Menschen konzentrieren und in anderen Bereichen des Lebens nicht so gut funktionieren. Das ist völlig normal und menschlich. Verhaltenswissenschaftler*innen nennen das „selektive Aufmerksamkeit“. Die fehlende Gewissheit über die Gesundheit und die Zukunft des geliebten Menschen beeinträchtigt Ihre kognitiven Ressourcen. Das kognitive System des Menschen hat nur eine begrenzte Kapazität. Das Denken an den geliebten Menschen kann viele kognitive Ressourcen verbrauchen, sodass weniger kognitive Ressourcen für andere Dinge zur Verfügung stehen.

Inzwischen wissen Sie wahrscheinlich, worauf ich hinauswill. Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einer globalen Pandemie. Sie wissen nicht, wann diese vorbei sein wird. Sie wissen nicht, ob Sie Ihre Arbeit behalten können (oder sind vielleicht schon arbeitslos geworden und wissen nicht, wie lange Ihre Ersparnisse reichen). Sie wissen nicht, ob die Menschen, die Ihnen nahestehen, ihre Arbeit behalten werden. Sie wissen nicht, wann Ihre Kinder endlich wieder in die Schule gehen können. Sie wissen nicht, welche Entscheidungen die führenden Politiker Ihres Landes als Nächstes treffen werden. Sie wissen nicht, wann Sie das nächste Mal mit Freunden in einem Restaurant sitzen werden. Und selbst wenn diese Pandemie bald vorbei sein wird, wissen Sie nicht, ob sie wiederkommen wird. Diese Situation schafft einen riesigen Mangel an Gewissheit. Und das beeinträchtigt natürlich Ihre kognitiven Fähigkeiten. Auch in diesem – leider realen – Beispiel ist es genau wie in dem eingangs geschilderten hypothetischen Szenario normal und menschlich, die kognitive Kapazität auf das zu lenken, was einem fehlt: die mangelnde Gewissheit darüber, was als Nächstes passiert.

Doch es gibt einen Unterschied zwischen der Situation, in der ein Verwandter erkrankt ist, und der sich weltweit ausbreitenden COVID-19-Pandemie. Wenn ein Verwandter krank ist, sollten Sie regelmäßig vorbeischauen und sich nach seinem Befinden erkundigen. Im Fall von COVID-19 (und vorausgesetzt, die Ihnen nahestehenden Menschen sind nicht ernsthaft daran erkrankt) können Sie entscheiden, wie regelmäßig Sie sich informieren. Damit meine ich den Umfang Ihres täglichen Medienkonsums. Wie oft am Tag lesen Sie die Nachrichten? Wie oft schauen Sie sich die Statistiken der Neuinfektionen und Todesfälle an? Wie sehr lenkt Sie dieses regelmäßige Nachschauen und Informieren von Ihrer Arbeit und Ihrer Familie ab? Genau!

Sie sollten nicht unwissend bleiben. Sie sollten sich dafür interessieren, was in der Welt geschieht und sich so verhalten, dass Sie dazu beitragen, die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Gleichzeitig sollten Sie aber verstehen, dass eine übermäßige Aufnahme von Informationen im Zusammenhang mit der Pandemie der Welt nicht den geringsten Nutzen bringt, aber Ihre kognitive Kapazität belastet. Sie sind bei der Arbeit weniger produktiv und könnten sogar Ihre Familie und Ihre eigene Gesundheit vernachlässigen.

Wer eindeutige Beweise dafür haben möchte, wie gravierend die selektive Aufmerksamkeit ist, sollte einen Blick auf die Studie in der Zeitschrift „Science“ werfen, die die oben genannten Wissenschaftler und ihr Team durchgeführt haben [2]. Die Forscher*innen führten mit einer Gruppe von Amerikaner*innen ein einfaches Experiment durch. In dem Experiment wurden die Teilnehmenden gebeten, einen IQ-Test zu absolvieren, der aus Multiple-Choice-Fragen bestand. In der ersten Versuchsanordnung wurden die Teilnehmenden darum gebeten, an ihre finanzielle Situation und die Sorgen, die sie ihnen bereitet, zu denken. In der zweiten Versuchsanordnung gab es keine solche Anweisung. Die Wissenschaftler*innen stellten fest, dass die Teilnehmer*innengruppe, die an den Mangel an Geld denken sollte, beim Test wesentlich schlechter abschnitt als die Teilnehmer*innengruppe, die nicht vorher dazu aufgefordert wurde. Wenn man zu viel über die Dinge nachdenkt, an deren Mangel man leidet, kann das ernsthaft die kognitiven Funktionen beeinträchtigen.

Ich weiß es natürlich zu schätzen, dass Sie diesen Artikel lesen. Sie sollten sich weiterhin darüber informieren, was in dieser schwierigen Zeit in der Welt geschieht, doch Sie sollten auch bedenken, wie stark das Ihre kognitiven Fähigkeiten belastet. Wie wär’s, wenn Sie jeden Tag eine bestimmte Zeit für das Lesen von Nachrichten reservieren und den Rest des Tages für die Aufgaben freihalten, von deren Erledigung Sie und andere Menschen profitieren?


[1] Mullainathan, S., & Shafir, E. (2013). Scarcity: Why having too little means so much (1st ed.). New York, NY: Times Books.

[2] Mani, A., Mullainathan, S., Shafir, E., & Zhao, J. (2013). Poverty impedes cognitive function. Science, 341(6149), 976–980.

 

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27. April 2020