Digitalisierung im Krankenhaus
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Entlastung durch Software? Digitalisierung und Teilautomatisierung der Pflegearbeit in Krankenhäusern

In vielen Dienstleistungsbranchen stimmen die Mitarbeitenden heute mit den Füßen ab: Im Gesundheitswesen, in der Verwaltung und in Handwerksbetrieben fehlt es an Personal. In der professionellen Pflege entscheiden sich Mitarbeitende etwa ganz wesentlich aufgrund der hohen Arbeitsdichte nur für eine Teilzeitstelle oder verlassen ihren Beruf (Bundesministerium für Gesundheit BMG 2022, S. 298-306; S. 443). Das Ausmaß der Arbeitsintensität avanciert zu einem zentralen Arbeitskonflikt und zentralen Hebel zur Bindung von Arbeitskräften.

Während der Covid-19-Pandemie spitzten sich die Folgen des Personalmangels im Gesundheitswesen zu: Wie viele Betten in Krankenhäusern mit Patient:innen belegt werden konnten, richtete sich nach der Anzahl der vorhandenen Pfleger:innen (etwa: James 2022). Das damalige schwarz-rote Kabinett wählte als eine Antwort auf die krisenhafte Versorgungssituation die finanzielle Förderung der Digitalisierung von Krankenhäusern (Bundesamt für Soziale Sicherung 2021, S. 6). Das erste Konjunktur- und Zukunftspaket während der Covid-19-Pandemie wurde im Juni 2020 beschlossen und führte zum Krankenhauszukunftsfonds, der 4,3 Milliarden Euro für die Digitalisierung der Krankenhäuser zwischen 2022 und 2025 bereitstellt.

In der Förderrichtlinie zum Krankenhauszukunftsfonds sind politische Erwartungen an die digitale Transformation der Krankenhäuser formuliert. Erwartet wird unter anderem, dass sich die Arbeitsmenge der Mitarbeitenden reduziere (etwa: Bundesamt für Soziale Sicherung 2021, S. 19–20). Die digitale Transformation verlaufe als notwendigerweise stufenweise Erhöhung des digitalen Reifegrades: Auf die digitale Vernetzung der Stationen setze die Teilautomatisierung einzelner Prozesse auf (Bundesamt für Soziale Sicherung 2021, S. 20; S. 23). Die Entlastung der Mitarbeitenden steige mit der Erhöhung des digitalen Reifegrades an (Bundesamt für Soziale Sicherung 2021, S. 23).

In diesem Beitrag diskutiere ich repräsentative Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen dem digitalen Reifegrad des Arbeitsplatzes und der Höhe der Arbeitsintensität in der akutstationären Pflege. Auf Basis des Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP) aus dem Jahr 2020 (SOEPcore, v37) schätze ich ein lineares Wahrscheinlichkeitsmodell (Hippel 2015). Zur Anreicherung meiner Thesen greife ich auf Interviews und teilnehmende Beobachtung einer Arbeitssituationsanalyse in drei überdurchschnittlich digitalisierten Krankenhäusern zurück, die im Rahmen des Forschungsprojektes „Vernetzte Klinik – entlastete Pflege?“ (02/2022 – 01/2025)[1] untersucht wurden. Am Beispiel der akutstationären Pflege generiere ich Orientierungswissen darüber, wie die alltägliche Nutzung digitaler Arbeitsmittel die Arbeitsintensität in Dienstleistungsbranchen verändert. Es handelt sich um die erste Auswertung repräsentativer Daten zum Zusammenhang zwischen der alltäglichen Nutzung digitaler Arbeitsmittel und der Arbeitsintensität in der akutstationären Pflege in Deutschland.

Forschungsstand und Thesen

Klassischerweise widmen sich die quantitativen Forschungsstränge zu Jobqualität und zum Arbeitsmarkt den hier relevanten Indikatoren der digitalen Arbeitsmittel, der Arbeitsintensität und der Substitution von Tätigkeiten. Sowohl national als auch international sind kaum quantitative Studien zum Zusammenhang von digitalen Arbeitsmitteln und Arbeitsintensität vorhanden (etwa: Chesley 2014; Dengler und Tisch 2020; Menon et al. 2020; Meyer und Hünefeld 2021; Meyer et al. 2019; Kirchner 2015). Dies gilt insbesondere, wenn als Spezifikum digitaler Arbeitsmittel zwischen Digitalisierung und Teilautomatisierung unterschieden wird (vgl. Berg et al. 2023).

Die zentrale Annahme zur Digitalisierung von Arbeit in der Forschung zu Jobqualität lautet, dass die Digitalisierung das Potenzial des Managements erhöht, Mitarbeitende und anfallende Arbeit passgenau abzustimmen (Green 2006, S. 69–70). Die Arbeitssituation von Pfleger:innen im Krankenhaus ist durch eine relativ hohe Autonomie und eine hohe Arbeitsmenge geprägt (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) 2020, S. 141–143). Durch die Digitalisierung der Kommunikation und Dokumentation entfallen in einer solchen Arbeitssituation beispielsweise Wartezeiten in der Abstimmung mit anderen Berufsgruppen wie Ärzteschaft, Transport- oder Labordienst.

Die empirisch fundierte Annahme zu Automatisierung und Substitution ist, dass routinierte, manuelle und physisch anstrengende Tätigkeiten ein hohes Potenzial haben, durch Automatisierung substituiert zu werden (Autor 2015; Dengler und Tisch 2020). In der akutstationären Pflege wird beispielsweise das mehrmals tägliche Übertragen von Vitaldaten in die Dokumentation von digitalen Messgeräten übernommen. Auf der Intensivstation übernimmt häufig eine Software das Messen der Vitalwerte, verarbeitet diese Informationen automatisch und löst bei kritischen Werten ein akustisches Alarmsignal aus.

Im Einklang mit den politischen Erwartungen an die Förderung durch den Krankenhausstrukturfonds ist auf den ersten Blick davon auszugehen, dass Digitalisierung und Teilautomatisierung jeweils die Arbeitsmenge und damit die Arbeitsintensität der Pfleger:innen verringern.

Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass sich die Arbeitsmenge ebenso erhöhen kann. Wie das qualitativ-empirische Material der Arbeitssituationsanalyse zeigt, erhöht sich die Arbeitsmenge bei ungünstigem Informations- oder Infrastrukturmanagement. Das Informationsmanagement umfasst den technischen und organisatorischen Umgang mit der Tatsache, dass digitale Daten händisch generiert werden müssen. Es entsteht Mehrarbeit, wenn die Software mehr Dateneingabe erfordert als das Papier, wenn bei Personalmangel Informationen ‚schneller‘ analog statt digital übergeben werden und wenn Informationen aufgrund der Unübersichtlichkeit der Softwareoberfläche länger gesucht werden müssen als in der Papierakte. Infrastrukturmanagement umfasst den technischen und organisatorischen Umgang mit der Tatsache, dass Hardware und Software, ebenso wie Informationssysteme und Subsysteme miteinander kompatibel sein müssen. Es entsteht Mehrarbeit, wenn der Computer regelmäßig abstürzt, das Laden und Speichern von Informationen kaum nutzbare Wartezeit erfordert oder eine fehlende Schnittstelle zwischen Softwaresystemen zu Doppeldokumentation führt.

Die qualitative Arbeitssituationsanalyse legte nahe, dass ein ungünstiges Informationsmanagement oder ein ungünstiges Infrastrukturmanagement vor allem bei der Digitalisierung und kaum bei der Teilautomatisierung auftraten. Nimmt man die verschiedenen Wirkungsweisen zusammen, ist anzunehmen:

  • Digitalisierung der Kommunikation und Dokumentation: Die mehrmals tägliche Nutzung von Software zur digitalen Dokumentation und Kommunikation weist keinen eindeutigen Zusammenhang zur Arbeitsintensität in der akutstationären Pflege auf.
  • Teilautomatisierung der Messung und Dokumentation: Die mehrmals tägliche Nutzung von teilautomatisierter Software zur Messung und Dokumentation verringert die Arbeitsintensität in der akutstationären Pflege.

Die digitale Transformation der akutstationären Pflege ist ein stufenweiser Prozess. Dementsprechend wird hier zwischen dem digitalen Reifegrad am Arbeitsplatz unterschieden als Arbeitsplatz in einer nahezu analogen Klinik, einer digitalen Klinik (= Digitalisierung) oder einer vernetzten Klinik (= Digitalisierung und Teilautomatisierung).

Ergebnisse

Die Ergebnisse des linearen Wahrscheinlichkeitsmodells widerlegen die erste These zur Digitalisierung der Kommunikation und Dokumentation und bestätigen die zweite These zur Teilautomatisierung von Messung und Dokumentation.

Zur ersten These: Im Vergleich zu Pfleger:innen an einem nahezu analogen Arbeitsplatz, berichten Pfleger:innen, die mehrmals täglich Software zur digitalen Dokumentation und Kommunikation nutzen, eine höhere Arbeitsintensität: Ihre Wahrscheinlichkeit, eine hohe Arbeitsintensität zu erleben, ist um rund 30 Prozentpunkte höher (s. Abbildung 1). Anders als theoretisch erwartet zeigt sich ein eindeutiger Zusammenhang und anders als politisch erwartet keine Reduktion der Arbeitsintensität. Die qualitative Arbeitsplatzanalyse legt nahe, dass aktuell ungünstiges Informations- oder Infrastrukturmanagement die Erhöhung der Arbeitsintensität bedingen.

Abbildung 1: Lineares Wahrscheinlichkeitsmodell zu digitalem Reifegrad am Arbeitsplatz und Höhe der Arbeitsintensität im Jahr 2020

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Bringmann - Reifegrad und Arbeitsintensität

Um das Ausmaß der Arbeitsintensivierung einschätzen zu können, lohnt ein Vergleich mit dem Arbeitszeitvolumen von Pfleger:innen: Die Arbeitsintensivierung durch die mehrmals tägliche Nutzung von Software zur digitalen Kommunikation und Dokumentation ist – in dieser Stichprobe – höher als die Arbeitsintensivierung, die Pfleger:innen bei einer Arbeitszeit von über 40 Wochenstunden im Vergleich zu höchstens 40 Wochenstunden berichten (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Lineares Wahrscheinlichkeitsmodell zu Digitalisierung, Wochenarbeitszeit und Höhe der Arbeitsintensität im Jahr 2020

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Bringmann - Workload und Arbeitsintensität

Die zweite These zur Teilautomatisierung bestätigt sich: Pfleger:innen, die zusätzlich zur digitalen Dokumentation und Kommunikation mehrmals täglich Software zur automatisierten Messung und Dokumentation nutzen („vernetzte Klinik“), berichten wie erwartet eine geringere Arbeitsintensität als Pfleger:innen, die mehrmals täglich mit Software zur digitalen Kommunikation und Dokumentation arbeiten („digitale Klinik“) (vgl. Abbildung 1).

In der Gesamtschau wird deutlich, dass - in dieser Stichprobe - Arbeitsplätze mit dem höchsten digitalen Reifegrad („vernetzte Klinik“) ein vergleichbares Niveau an Arbeitsintensität aufweisen wie nahezu analoge Arbeitsplätze („nahezu analoge Klinik“) (s. Abbildung 1). Anders als politisch erwartet steigt die Entlastung der Mitarbeitenden mit der Erhöhung des digitalen Reifegrades nicht durchgängig an. Die Ergebnisse verdeutlichen die Bedeutung eines erfolgreichen Informationsmanagements sowie eines erfolgreichen Infrastrukturmanagements.

Empfehlungen

Aus der bisherigen Forschung ergeben sich drei Handlungsfelder für politische Akteure, die das Ziel eines entlastenden Einsatzes von Software insbesondere in Dienstleistungsbranchen mit hohem Arbeitskräftebedarf und hoher Arbeitsintensität weiter fördern möchten.

  1. Generierung von mehr Orientierungswissen
    Dieser Beitrag präsentiert die ersten repräsentativen Ergebnisse zur alltäglichen Nutzung von verschiedenen digitalen Arbeitsmitteln und einer zentralen Dimension der Jobqualität in der professionellen Pflege in Deutschland. Es wird empfohlen, die Begleitforschung von bestehenden und zukünftigen Digitalgesetzen – inklusive des Krankenhauszukunftsgesetzes – jeweils um eine Studie zu den mittelfristigen Effekten des Einsatzes von digitalen Arbeitsmitteln auf die Jobqualität zu erweitern.
  2. Stärkung von betrieblichen Technikfolgenabschätzungen
    Der Einsatz von digitalen Arbeitsmitteln kann mit zusätzlichen arbeitsbedingten Belastungen und Gefährdungen einhergehen, welche aufgrund technischer und organisatorischer Pfadabhängigkeiten nur mit hohem zeitlichen und finanziellen Aufwand zu revidieren sind. Mit vorausschauenden und partizipativen betrieblichen Folgenabschätzungen kann insbesondere ungünstigem Informations- und Infrastrukturmanagement vorgebeugt werden. Es wird empfohlen, die Umsetzung von Folgenabschätzungen auf drei Arten gesetzlich zu stärken:
    1. Werden betriebliche Gefährdungsbeurteilungen nicht oder nicht adäquat durchgeführt, etwa gemäß § 3 der Betriebssicherheitsverordnung, wird dies stärker als bisher sanktioniert.
    2. Werden betriebliche Investitionen in digitale Arbeitsmittel staatlich gefördert, gilt als neues Förderkriterium: Unternehmen sind verpflichtet, vor der Einführung von digitalen Arbeitsmitteln eine partizipative und vorausschauende Abschätzung der Belastungsfolgen vorzunehmen (vgl. § 3 Betriebssicherheitsversordnung; vgl. Arbeit und Gesundheit e.V. i.E.).
    3. Den Interessenvertretungen der Mitarbeitenden wird ein Recht auf Mitbestimmung bei der Auswahl von digitalen Arbeitsmitteln mit Blick auf die Folgen für Mitarbeitende zugesprochen und gesetzlich verankert (Bringmann et al. i.E.).
  3. Gesicherte Refinanzierung von IT-Personal
    Ohne ausreichendes Personal in der IT-Abteilung ist die reibungslose Einführung und Wartung von digitalen Arbeitsmitteln nicht zu gewährleisten (Bundesministerium für Gesundheit (BMG) 2022, S. 586). Für den Krankenhaussektor ist es zu empfehlen, die vollständige Refinanzierung des IT-Personals gesetzlich zu verankern, etwa im Zuge einer Zweckbindung der zukünftigen Vorhaltepauschale.

Literaturverzeichnis

[1] Ich danke Prof. Philipp Staab und Benjamin Henry Petersen für die fruchtbare Zusammenarbeit in dem Forschungsprojekt und die Möglichkeit, die Daten zu verwenden.

23.10.2023