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Wohnort prägt Jobwünsche

Berufswahl im Kontext regionaler Arbeitsmärkte

Matthias Flohr, Laura Menze und Paula Protsch

Die Wahl eines Berufs ist für Jugendliche ein wichtiger Entwicklungsschritt. Die Berufswahl leitet den Übergang von der Schule in den Arbeitsmarkt ein und hat langfristige Konsequenzen für die individuelle ökonomische und soziale Positionierung im weiteren Lebensverlauf. Wer einen Beruf wählt, legt sich oft fest. Spätere Berufswechsel sind nur schwer zu bewerkstelligen – insbesondere in Ländern, in denen eine enge Verknüpfung von formalen Qualifikationen und Beschäftigungschancen besteht, wie es in Deutschland und anderen Ländern mit ähnlichen beruflichen Ausbildungssystemen der Fall ist.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der Entwicklung von beruflichen Aspirationen – also der Frage, welchen Berufswunsch Jugendliche verfolgen – in der Forschung besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. So ist beispielsweise bekannt, dass junge Frauen und Männer sich aufgrund von geschlechtsspezifischen Berufs- und Arbeitswerten sowie antizipierten beruflichen Barrieren darin unterscheiden, welche Berufe ihnen allgemein als wünschenswert erscheinen. Im Berufsfindungsprozess stehen Jugendliche vor der Aufgabe, ihre fachlichen Interessen und allgemeinen Attraktivitätsvorstellungen mit den real gegebenen Möglichkeiten abzugleichen. Nicht studienberechtige Jugendliche müssen dabei zu Kompromissen bereit sein. Sie sind aufgrund ihres Schulabschlusses auf Berufe im mittleren (oder unteren) Qualifikationssegment festgelegt, für die in der Regel eine berufliche Ausbildung benötigt wird. Für Jugendliche, die maximal einen Hauptschulabschluss haben, sind zudem viele der Berufe im mittleren Qualifikationssegment kaum erreichbar. Die beruflichen Pläne und Erwartungen zum Ende der Schulzeit – auch realistische berufliche Aspirationen genannt – stellen somit einen Kompromiss zwischen den gewünschten und den als erreichbar wahrgenommenen Berufsoptionen dar. Das Spektrum der Berufe, die dabei gewünscht werden, unterscheidet sich also nicht nur zwischen jungen Männern und Frauen, sondern auch nach dem Schulabschlussniveau, mit dem die Jugendlichen erwarten, die Schule zu verlassen.

Jugendliche entwickeln ihre beruflichen Aspirationen in den sozialen Kontexten, in denen sie sich bewegen und mit anderen Personen interagieren. Dabei stellt die regionale Herkunft, einschließlich des regionalen Arbeitsmarkts, insbesondere für nicht studienberechtigte Jugendliche einen wichtigen sozialräumlichen Kontext dar, der über das unmittelbare Umfeld der Familie, der Schule oder der Nachbarschaft hinaus die Entwicklung ihrer Berufswünsche bedingt. So zeigt die bisherige Forschung, dass regionale Arbeitsmarktcharakteristika – wie die regionale Arbeitslosigkeit oder der regionale Anteil der Erwerbstätigen in männer- und frauentypischen Berufen – sich in verschiedener Weise in den beruflichen Aspirationen von Jugendlichen widerspiegeln.

Dieser Beitrag richtet den Fokus auf die Bedeutung der regionalen Präsenz unterschiedlicher Berufe für die Berufswahl. Abbildung 1 stellt die regionale Präsenz exemplarisch für Berufe in der Gruppe Maschinenbau und Betriebstechnik dar. Sie zeigt, wie hoch der Anteil der Beschäftigten in diesen Berufen an allen Beschäftigten in der Region ist.

Die Abbildung zeigt den Anteil der Beschäftigten in Berufen in Maschinenbau und Betriebstechnik an allen Beschäftigten in der Region (Arbeitsagenturbezirke):

Die Annahme, dass die regionale Berufsstruktur Jugendliche in ihrer Berufswahl beeinflusst, findet sich bereits bei den Klassikern der Soziologie: Schon 1931 stellte Paul F. Lazarsfeld die These auf, dass die Berufswahl der Jugendlichen sich „[...] als Niederschlag äußerer Eindrücke gestaltet. Denn die äußeren Berufseindrücke, die das tägliche Leben bietet, sind ja proportional der tatsächlichen Berufsverteilung. Je mehr Metallarbeiter es gibt, umso mehr und umso öfter werden die Jugendlichen von diesem Beruf hören und umso öfter werden sie zu seiner Wahl angeregt werden“. Sprich: Wenn bestimmte Berufe einen großen Anteil an der Berufsstruktur des regionalen Arbeitsmarkts haben, sollten sie für Jugendliche konkreter erfahrbar werden und so auch eher für die eigene Erwerbstätigkeit in Erwägung gezogen werden als weniger stark vertretene Berufe. Ob Jugendliche jedoch tatsächlich eher diejenigen Berufe wählen, die auf dem jeweiligen regionalen Arbeitsmarkt häufiger vertreten sind, ist eine Frage, die bisher empirisch weitgehend unbeantwortet geblieben ist.

Dieser Beitrag untersucht die Bedeutung der regionalen Berufsstruktur anhand von Daten der Startkohorte 4 des Nationalen Bildungspanels (NEPS). Bei dieser Studie handelt es sich um eine repräsentative Befragung von Jugendlichen aus ganz Deutschland. Die Auswertungen beziehen sich auf Jugendliche an nicht gymnasialen Schulen. Diese erwarteten zum Befragungszeitpunkt in der 9. Klasse, die Schule mit maximal einem mittleren Schulabschluss (MSA) zu verlassen. Es handelt sich damit um Jugendliche, die sich zum Zeitpunkt der Befragung tatsächlich schon mit der Planung ihres nachschulischen Bildungswegs befassen mussten und damit mit der Frage, welchen Beruf sie gerne ergreifen würden. Die beruflichen Aspirationen der Jugendlichen wurden über folgende Frage erhoben: „Denken Sie einmal an alles, was Sie gerade wissen. Welchen Beruf werden Sie wohl später tatsächlich haben?“ Die so gemessenen realistischen Berufsaspirationen unterscheiden sich damit von idealistischen Berufswünschen, die frei von möglichen institutionellen und sozialen Limitationen sind.

Um zu untersuchen, inwiefern die regionale Präsenz eines Berufs die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass dieser Beruf angestrebt wird, wurden die Befragungsdaten durch regionale Arbeitsmarktindikatoren auf Basis von Statistiken der Bundesagentur für Arbeit ergänzt. Die regionale Berufsstruktur wurde detailliert über die Anteile der Beschäftigten in einzelnen Berufen modelliert. Neben der geschlechtlichen beruflichen Segregation berücksichtigen die Analysen die Berufe der Eltern und die Tatsache, dass einzelne Berufe generell beliebter sind als andere und dass für Jugendliche mit mittlerem Schulabschluss aufgrund von formalen oder informellen Zugangsbarrieren andere Berufe erreichbar sind als für Jugendliche mit maximal Hauptschulabschluss. Betrachtet werden somit regionale Unterschiede innerhalb gleicher Berufe und innerhalb des gleichen, nach Schulabschlussniveau und Geschlecht vordefinierten Berufsspektrums.

Die Ergebnisse bestätigten die theoretische Erwartung: Je höher der Anteil eines Berufs an der regionalen Berufsstruktur ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass Jugendliche erwarten, diesen Beruf einmal selbst auszuüben. Damit ziehen sie je nach Ausprägung der regionalen Berufsstruktur unterschiedliche Berufe für sich in Erwägung. Dieser Zusammenhang entsteht nicht allein daraus, dass die Eltern der Jugendlichen häufiger Berufe ausüben, die regional auch häufiger vertreten sind. Er wird darüber hinaus nicht von spezifischen Merkmalen der Berufe wie dem Berufsprestige oder dem Anteil an weiblichen bzw. männlichen Beschäftigten beeinflusst und ist auch von dem Ausmaß der regionalen Arbeitslosigkeit unberührt.

Abbildung 2 illustriert für eine Auswahl an Berufen, wie für junge Männer und Frauen die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit, einen bestimmten Beruf zu aspirieren, mit dessen regionaler Präsenz zunimmt. Dies ist insbesondere für Berufe der Fall, die allgemein besonders häufig aspiriert werden. Für junge Männer handelt es sich dabei um Berufe im Bereich Fahrzeug-, Luft-, Raumfahrt- und Schiffbautechnik und für junge Frauen um Berufe im Bereich Erziehung, Sozialarbeit, Heilerziehungspflege. Die Ergebnisse in der Abbildung beziehen sich auf die beruflichen Erwartungen von Jugendlichen, die die Schule voraussichtlich mit einem mittleren Schulabschluss verlassen werden und deren aspirierter Beruf nicht mit den Berufen ihrer Eltern übereinstimmen.

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Grafik Protsch et al.

Zusammenfassend lässt sich schlussfolgern, dass die regionale Herkunft von Jugendlichen einen Einfluss auf ihre Berufswahl hat: Die regionale Berufsstruktur ist ein wichtiger sozialräumlicher Faktor, der über formale und informelle Barrieren hinaus, die durch das Niveau des Schulabschlusses und das Geschlecht bestehen, die Berufsfindungsprozesse prägt. Die Berufswahl wird so zu einem gewissen Grad zufällig, ähnlich einer „Lotterie“ über den Wohnort im Jugendalter geprägt. Da über Berufe weitgehend der Zugang zu ökonomischen und auch sozialen Ressourcen bestimmt wird, hat die regionale Herkunft damit auch langfristige Konsequenzen für ungleiche Lebensbedingungen im weiteren Erwerbsverlauf. Ähnliche Zusammenhänge sind nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere institutionelle Kontexte zu erwarten, und zwar immer dann, wenn junge Menschen an die Ausbildungs- und Erwerbschancen regionaler Arbeitsmärkte gebunden sind. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Konsequenzen dieser frühen beruflichen Prägung für den weiteren Lebensverlauf in Deutschland und in Ländern mit ähnlich segregierten Bildungssystemen und beruflich strukturierten Arbeitsmärkten gravierender sind, da spätere berufliche Wechsel mit hohen Hürden verbunden sind.

Wie ist das zentrale Ergebnis, dass die regionale Berufsstruktur die Berufswahl von Jugendlichen beeinflusst, einzuordnen? Auf der einen Seite kann dieser Befund als eine indirekte Einschränkung der laut Grundgesetz geforderten Berufswahlfreiheit betrachtet werden. Auf der anderen Seite beziehen sich die Angebote und Maßnahmen der Akteure im Bereich der Berufsorientierung und Beratung in den Schulen und Arbeitsagenturen nicht ohne guten Grund auf die regionalen Gegebenheiten. Letztlich kann der Berufseinstieg nur dort erfolgreich sein, wo es auch passende Ausbildungs- und Arbeitsplätze gibt. Die Arbeit von Akteuren in diesem Bereich muss sich somit in diesem Spannungsfeld verorten.

 

Literatur

Flohr, Matthias/Menze, Laura/Protsch, Paula: „Berufliche Aspirationen im Kontext regionaler Berufsstrukturen“. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2020, Jg. 72, S. 79-104.

Lazarsfeld, Paul F.: „Die Ergebnisse und die Aussichten der Untersuchungen über Jugend und Beruf“. In: Paul F. Lazarsfeld (Hg.): Jugend und Beruf. Kritik und Material. Jena: Gustav Fischer 1931, S. 1-87.