Autokratisierung und ihre Folgen
Demokratien sind weltweit unter Druck. Vanessa Boese und Sebastian Hellmeier konstatieren in ihrem Beitrag für die Online-Mitteilungen eine andauernde Welle der Autokratisierung. Die beiden Forschenden betrachten die aktuellen Transformationen der Demokratie und werten Statistiken aus, um diese Entwicklungen nachzuverfolgen und sie in einen historischen Kontext einzuordnen.
In vielen Teilen der Welt sind Demokratien unter Druck. Global betrachtet befinden wir uns in einer andauernden Welle der Autokratisierung. In unserer Forschung beobachten wir die aktuellen Transformationen der Demokratie weltweit und werten Statistiken aus, um diese Entwicklungen nachzuverfolgen und in den historischen Kontext einzuordnen. Einige Ergebnisse unserer Arbeit sind in den jährlich erscheinenden Democracy Reports des an der Universität Göteborg (Schweden) ansässigen Varieties-of-Democracy-Instituts zusammengefasst. Dem aktuellen Report zufolge gab es im Jahr 2021 nur knapp so viele Demokratien wie Autokratien auf der Welt – 89 Staaten mit demokratischen Regierungen standen 90 autokratischen Regierungen gegenüber. In den 90 Autokratien leben 70 Prozent der Weltbevölkerung, während nur 30 Prozent aller Menschen weltweit demokratisch regiert werden. Die Zahl der Autokratien, also von Regierungssystemen ohne freie und faire Wahlen und ohne ein Mindestmaß an bürgerlichen Freiheiten, ist ungefähr seit der Jahrhundertwende stetig angestiegen; dieser Trend setzt sich auch aktuell fort.
Mithilfe vergleichender Daten zur Qualität der Demokratie weltweit beobachten wir Autokratisierung in den letzten 20 Jahren entlang zweier Entwicklungsstränge: Zum einen entfalten sich Autokratisierungsprozesse in (einst) demokratischen Ländern wie Ungarn, wo die gewählte Regierung demokratische Normen und Institutionen einschränkt, beispielsweise indem die Pressefreiheit unterdrückt wird oder Wahlbezirke so zugeschnitten werden, dass die derzeitige Regierung überproportionale Sitzanteile im Parlament erlangt und nur sehr schwer abgewählt werden kann. Im schlimmsten Fall kommt es durch solche Erosionen zum Zusammenbruch des demokratischen Systems. Zum anderen werden bereits autoritär regierte Länder noch repressiver. So wurden Pressefreiheit und bürgerliche Freiheiten in Russland vor und während des Angriffskriegs gegen die Ukraine weiter eingeschränkt. Dadurch werden bestehende autokratische Institutionen ausgebaut und gefestigt.
Die magentafarbene Linie in Abbildung 1 zeigt die Anzahl der Länder (sowohl Demokratien als auch Autokratien), in denen die Qualität demokratischer Institutionen seit 1900 signifikant abnimmt. Wir sprechen hier von Episoden der Autokratisierung. Drei Wellen der Autokratisierung sind zu erkennen: die erste rund um den 2. Weltkrieg, die zweite während der 1960er- und 1970er-Jahre und schließlich die dritte Welle ab etwa dem Ende des Kalten Krieges. Das Ausmaß der aktuellen Autokratisierungswelle wird in der Abbildung deutlich. Während des gesamten 20. Jahrhunderts waren nie so viele Länder gleichzeitig einem Prozess der Autokratisierung unterworfen wie im Jahr 2021. Zum Vergleich zeigt die Abbildung anhand der gestrichelten Linie die Anzahl an Ländern, in denen Episoden der Demokratisierung stattfinden. Auch hier zeigen sich drei globale Wellen der Demokratisierung, die sich gegenläufig zu den Autokratisierungswellen entwickeln. Die ersten beiden Wellen sieht man nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, die dritte nach dem Ende des Kalten Krieges. Zurzeit sinkt die Anzahl der Länder, die sich in einem Demokratisierungsprozess befinden, und diese sind eher klein und haben eine geringe Wirtschaftskraft, wie zum Beispiel der Inselstaat Fidschi – viel größer sind die von Autokratisierung bedrohten Länder (beispielsweise Indien). Unser Befund ist: Trotz eines langfristig betrachtet hohen Demokratisierungsgrads in vielen Staaten ist die Lage der Demokratie ernst und die derzeitige Welle der Autokratisierung von einem historischen Ausmaß.
Autokratisierung in Aktion
Der Verlust demokratischer Qualität wird auch als Regression oder Erosion bezeichnet. Die aktuelle Welle der Autokratisierung zeichnet sich dadurch aus, dass Erosionsprozesse gradueller Natur sind und langsam voranschreiten. In früheren Wellen war es oft das Militär, das durch einen Staatsstreich an die Macht gelangte. Ein weiteres Merkmal ist, dass illiberale Akteur*innen oft schon bestehende Polarisierungstendenzen vorantreiben, um die Gesellschaft weiter zu spalten und demokratische Institutionen zu schwächen. Hohe Grade an Polarisierung (man spricht auch von toxischer Polarisierung) und Autokratisierung bilden dabei einen Teufelskreis: Die Gesellschaft zerfällt zunehmend in zwei sich gegenüberstehende Lager, und der öffentliche Diskurs ist von einer Rhetorik des „Wir gegen Euch“ geprägt. Ein Beispiel für solch toxische Polarisierungsvorgänge ist die zunehmende Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft entlang der Parteilinien. Kommt es auf einem solchen toxischen Level der Polarisierung zu Wahlen, treten politische Inhalte in den Hintergrund und Kandidat*innen werden tendenziell aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem der beiden Lager gewählt. Ihre demokratische (oder antidemokratische) Einstellung verliert an Bedeutung für die Wählenden. Kommen antidemokratische Akteur*innen so an die Macht, diffamieren sie die Mitglieder der anderen Gruppe und treiben Polarisierung und Autokratisierung weiter voran.
Aber auch in bereits autoritär geführten Ländern kommt es gerade zu einem Abbau von in Teilen existierenden demokratischen Rechten und Freiheiten. 2021 fanden weltweit mindestens fünf erfolgreiche Staatsstreiche statt – ein bemerkenswerter Anstieg, verglichen mit den durchschnittlich 1,2 Putschen pro Jahr seit 2000. Fünf dieser Putsche traten in Autokratien auf und trugen dazu bei, autokratische Strukturen auszubauen und zu festigen: in Myanmar, im Tschad, in Mali, Guinea und im Sudan.
Als ein Merkmal zeitgenössischer Autokratisierung sticht vor allem der gezielte Einsatz von Desinformation durch antidemokratische Akteur*innen hervor. Diese lässt sich in allen Regimeformen (demokratischen wie autokratischen) beobachten. Sie beinhaltet zum einen Strategien, die darauf abzielen, die öffentliche Meinung zum eigenen Vorteil zu beeinflussen, zum Beispiel durch die Verbreitung von Fake News über soziale Medien und die Presse. Zum anderen gehört sogar die Manipulation offizieller Statistiken hinzu, wie etwa bei Todeszahlen in der Corona-Pandemie oder bei der Wirtschaftsleistung.
Renaissance der gewaltbereiten Autokraten?
Was sind die Konsequenzen aus der gegenwärtigen Autokratisierungswelle? Die Forschung hat auf diese Fragen klare Antworten. An erster Stelle steht: Die Autokratisierungswelle ebnet den Weg für mehr (und blutigere) Konflikte. Die Idee des Kant’schen Friedens besagt, dass Demokratien keine anderen Demokratien angreifen. Ein wiedererstarkter Autokrat wie Putin hingegen schreckt nicht länger vor zwischenstaatlichen Konflikten zurück – wie wir jetzt in der Ukraine sehen können. Selbst bei innerstaatlichen Konflikten wie in Syrien zeigt sich, dass es zu mehr Todesopfern kommt, wenn Autokratien am Konflikt beteiligt sind. Die Weltkarte in Abbildung 3 zeigt Demokratien wie Autokratien und macht sichtbar, ob diese im Jahr 2021 in bewaffnete Konflikte (zwischenstaatlich wie innerstaatlich) involviert waren. Der Großteil der demokratischen Länder war 2021 friedlich (dunkel-lila). Bei Autokratien verhält es sich genau umgekehrt: Die Mehrzahl der autokratischen Staaten war 2021 in bewaffnete Konflikte verwickelt.