Eine Lösung für wen?
Die sogenannte Krise der sozialen Reproduktion meint unter anderem, dass Haushalten immer weniger Zeit und Energie für die Haus- und Sorgearbeit zur Verfügung stehen. Digitale Plattformen, über die mit nur wenigen Klicks Liefer-, Reinigungs- oder Betreuungsdienste kostengünstig und flexibel in Anspruch genommen werden können, scheinen eine Lösung zu bieten. Doch wie wirkt sich das Plattformmodell auf den Alltag derjenigen aus, die über Plattformarbeit andere von diesen Tätigkeiten entlasten? Diese Frage diskutiert Isabella Stingl anhand der Erfahrungen von Plattformarbeiter*innen aus dem Reinigungs- und Betreuungsbereich in Berlin und Zürich.
Wer putzt die Dusche, wer kocht das Abendessen, wer hilft den Kindern bei den Hausaufgaben, wer besucht die Nachbarschaftsversammlung? All diese Fragen beziehen sich auf Tätigkeiten der sozialen Reproduktion, die ganz allgemein gefasst die tägliche und generationenübergreifende Erhaltung des Lebens sicherstellen. Dieses Verständnis von sozialer Reproduktion geht auf feministische Marxist*innen in der zweiten Welle des Feminismus zurück. Sie kritisierten, dass in gängigen ökonomischen Analysen all jene Tätigkeiten ausgeklammert wurden, die außerhalb des unmittelbaren Produktionsprozesses liegen, obwohl diese eine wesentliche Rolle für die „Wiederherstellung der Arbeitskräfte“ spielen. Damit wurde die Bedeutung der Haus- und Sorgearbeit, die auch heute noch zumeist unter- oder unbezahlt und überproportional von Frauen geleistet wird, für das Funktionieren des kapitalistischen Systems betont.
Die feministische Forschung diagnostiziert seit längerer Zeit eine Krise der sozialen Reproduktion. Diese äußert sich unter anderem darin, dass immer mehr Menschen nicht mehr über genügend Zeit und Energie für Haus- und Sorgearbeit verfügen. Die Krise der sozialen Reproduktion wird unter anderem auf die Erosion des „Ernährermodells“ und die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen seit den 1970er-Jahren zurückgeführt. Weil mehr und mehr Frauen arbeiten, steht weniger unbezahlte Arbeit im Haushalt und in der Gemeinschaft zur Verfügung. Diese Situation wird durch den Abbau und die (Re-)Privatisierung staatlicher Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Erziehung und Bildung sowie einen Trend zu flexibleren und intensivierten Arbeitszeiten weiter verschärft. Angesichts sinkender Reallöhne bei steigenden Lebenshaltungskosten können es sich nur wenige leisten, sozial reproduktive Tätigkeiten an bezahlte Dritte auszulagern.
Digitale Plattformunternehmen wie Lieferando, Gorillas, Helpling oder Betreut.de scheinen eine Lösung zu bieten: Sie ermöglichen es Nutzer*innen, über wenige Klicks auf einer Webseite oder über eine App Lebensmittel liefern zu lassen, Reinigungskräfte zu buchen oder Betreuungsservices für Kinder, ältere Menschen und Haustiere in Anspruch zu nehmen. So sollen Kund*innen in die Lage versetzt werden, sozial reproduktive Tätigkeiten flexibel und kostengünstig auszulagern. Den Arbeiter*innen scheint eine leicht zugängliche, oftmals zusätzliche Einkommensmöglichkeit mit vielen Freiheiten offeriert zu werden. Wie aber gestalten sich die Verheißungen der sogenannten Plattformökonomie in der Realität? Dieser Frage gehe ich in meiner aktuellen Forschung – gemeinsam mit meiner Kollegin Marisol Keller von der Universität Zürich – anhand der gelebten Erfahrungen von Plattformarbeiter*innen in Berlin und Zürich nach.
Die Konditionen, unter denen sozial reproduktive Arbeit geleistet wird, ob bezahlt oder unbezahlt, stellen eine wichtige Dimension der postulierten Krise dar. Zusammen mit Marisol Keller untersuche ich daher die Auswirkungen der Plattformarbeit und die dem Plattformmodell inhärenten Machtungleichheiten auf das Alltagsleben von Arbeiter*innen. Als empirische Grundlage dienen qualitative Interviews mit Plattformarbeiter*innen aus dem Reinigungs- und Betreuungsbereich in Berlin sowie eine Autoethnografie von Marisol Keller in Zürich. Der Forschungsansatz der Autoethnografie zielt darauf ab, ein Phänomen aus den persönlichen Erfahrungen der Forscher*innen zu verstehen. Diesem Ansatz folgend, war Marisol Keller selbst mehrere Monate lang für verschiedene Plattformunternehmen in der Reinigung und in weiteren Bereichen in Zürich tätig. Ihren Arbeitsalltag als Plattformarbeiterin hat sie systematisch dokumentiert und analysiert.
Plattformarbeit im Bereich der Reinigung und Betreuung wird in der Regel auf selbstständiger Basis geleistet. Die Plattformen legen jedoch fest, welche mit der Plattformarbeit verbundenen Tätigkeiten als bezahlte Arbeit definiert werden. Bei der Reinigung sind das beispielsweise lediglich die zwei bis drei Stunden, die Arbeiter*innen üblicherweise in den Wohnräumen ihrer Kund*innen verbringen. In unserer Analyse folgen wir feministischen Perspektiven, die ein erweitertes Verständnis von Arbeit fordern und über diese als unmittelbar produktiv eingestuften Tätigkeiten hinausblicken. Dazu untersuchen wir das Zusammenspiel von bezahlter Plattformarbeit und Tätigkeiten, die direkt mit dieser Arbeit zusammenhängen, aber im Plattformmodell nicht entlohnt werden, und weiteren Tätigkeiten aus dem Bereich der sozialen Reproduktion.
Unbezahlt bleibt im Plattformmodell unter anderem jene Zeit, die Arbeiter*innen für das Pendeln zu und zwischen einzelnen Arbeitseinsätzen benötigen. Aus diesem Grund werden diese Phasen des Arbeitstages von vielen Forschungsteilnehmer*innen als „tote Zeit“ bezeichnet. Wie aus unseren Interviews hervorgeht, unterscheiden gerade Arbeiter*innen, die erst seit Kurzem auf den Plattformen tätig sind, oft nicht zwischen Aufträgen, die weit entfernt liegen, und solchen, die näher am vorherigen Einsatzort oder an ihrem Wohnort sind. Viel wichtiger ist es ihnen, möglichst viele Aufträge anzunehmen, um erste positive Kund*innenbewertungen auf den Plattformen zu sammeln. Ein positives Feedback macht es möglich, den selbst festgelegten Stundensatz in ihrem Profil zu erhöhen, und ist mit der Hoffnung verbunden, in Zukunft eine bessere Auswahl an Aufträgen zu haben. Die Zergliederung des Arbeitstages in mehrere Einheiten bezahlter und unbezahlter Arbeit führt zu einer stark ausgedehnten Arbeitszeit und erfordert eine hohe Mobilität der Arbeiter*innen. Dies empfinden gerade Forschungsteilnehmer*innen, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich über Plattformarbeit verdienen, als äußerst kräftezehrend.
Die Pausen bleiben im Plattformmodell den Arbeiter*innen selbst überlassen. Sie finden häufig zwischen zwei Aufträgen im öffentlichen Raum, auf dem Weg zum nächsten Auftrag oder, wie die Autoethnografie von Marisol Keller zeigt, sogar in den Wohnräumen der Kund*innen statt. Das ist etwa möglich, wenn ein Auftrag schneller als geplant abgeschlossen wird, die Kund*innen nicht vor Ort sind und so der Arbeitsplatz für einen kurzen Moment der Erholung genutzt werden kann. Pausen finden im Arbeitsalltag also in der Regel relativ spontan statt und können daher meist nicht mit den Rhythmen von Freund*innen, Familienmitgliedern oder Mitbewohner*innen abgestimmt werden. Viele Forschungsteilnehmer*innen fühlen sich dadurch vereinzelt – ein Gefühl, das zudem durch den fehlenden Kontakt zu Kolleg*innen gefördert wird. Im Gegensatz zu anderen Formen der Plattformarbeit gibt es für Arbeiter*innen im Bereich Reinigung und Betreuung in der Regel keine Basisstation, wo Kolleg*innen zusammenkommen, sich austauschen und gemeinsam erholen können.
Plattformunternehmen verorten zahlreiche weitere Tätigkeiten außerhalb der bezahlten Arbeitszeit, auch wenn diese die bezahlte Plattformarbeit erst möglich machen. Dazu zählen etwa die Pflege des eigenen Online-Profils, das kontinuierliche Bewerben auf einzelne Jobs sowie das Beantworten und Koordinieren von Jobangeboten und Kund*innenanfragen. Die Forschungsteilnehmer*innen haben keine festen Zeiten und Orte, an denen sie diese unbezahlten Aktivitäten ausüben. Sie sind vielmehr sieben Tage die Woche auf den Plattformen aktiv und beschreiben ihr Verhältnis zur App häufig als suchtartig.
Plattformarbeit dehnt sich somit auch auf Räume und Zeiten aus, die eigentlich der Entspannung und Erholung dienen. Dies zeigen auch die autoethnografischen Daten von Marisol Keller eindrücklich: Mit Kommunikationsinstrumenten wie Express-Nachrichten drangen die Apps über Laptop und Smartphone kontinuierlich in ihr Zuhause ein und waren auch am späten Abend oder am Wochenende im eigenen Wohn- oder Schlafzimmer präsent. Marisol Keller beschreibt, dass sie meist sofort reagierte, aus Angst, eine gute Jobchance zu verpassen, aber auch aus Unwissenheit über die Konsequenzen, wenn sie diese Nachrichten zu spät beantworten würde. Das Gefühl dominierte, dass die Apps ihre ständige Aufmerksamkeit forderten. Die Grenzen zwischen Arbeit, Zuhause und Freizeit verwischten.
Durch Informationsasymmetrien, fehlende Garantien auf bezahlte Arbeit und die Definition zahlreicher Tätigkeiten als Nicht-Arbeit bringen Plattformunternehmen Arbeiter*innen hervor, die ständig verfügbar und so für Kund*innen flexibel erreich- und buchbar sind. Der Druck zur ständigen Verfügbarkeit und die räumliche wie zeitliche Entgrenzung des Arbeitstages resultieren auf Seiten der Arbeiter*innen in einem Mangel an Erholung und sozialem Austausch, also an sozialer Reproduktion. Dies zeigt, dass digital vermittelte Arbeit in ihrer bisher dominanten Form keine adäquate Krisenlösung in Bezug auf die (bezahlte) Erbringung sozial reproduktiver Arbeit darstellt. Sie unterstützt vielmehr die einseitige Abwälzung sozial reproduktiver Krisen von Kund*innen auf Arbeiter*innen. Allerdings liegen bislang kaum Erkenntnisse darüber vor, inwieweit und für wen sich die Situation in den Haushalten, die diese Tätigkeiten über Plattformen auslagern, tatsächlich verbessert.
Das Problem der geringen gesellschaftlichen Anerkennung sozial reproduktiver Arbeit wird durch digitale Arbeitsvermittlungsplattformen ebenfalls nicht gelöst. Im Gegenteil, Tätigkeiten der sozialen Reproduktion erfahren eine weitere Abwertung als nutzlose Zeitverwendung, von der sich Personen mit ein paar Klicks schnell befreien sollten, ohne viel über die Arbeitsbedingungen im Plattformmodell zu erfahren. Vor diesem Hintergrund ist es spannend, einen Blick auf Projekte zu werfen, die die Zukunft der Haus- und Sorgearbeit durch eine alternative Plattformisierung verbessern wollen. Ein Beispiel dafür sind Plattformkooperativen, bei denen die Arbeiter*innen selbst im Besitz der Plattform sind und sie eigenständig verwalten.
Dieser Beitrag basiert in Teilen auf einem Artikel, den ich zusammen mit Marisol Keller von der Universität Zürich verfasst habe. Der Artikel wird voraussichtlich 2024 unter dem Titel „Machtvolle Rhythmen: Zum Einfluss digitaler Arbeitsvermittlungsplattformen auf die Zeit-Räume der Re/Produktion“ in dem Sammelband „Geographien der Arbeit“ bei Springer Nature erscheinen.
Literatur
Bor, Lisa: „Helpling hilft nicht – zur Auslagerung von Hausarbeit über digitale Plattformen“. In: Moritz Altenried/Julia Dück/Mira Wallis (Hg.): Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion. Münster: Westfälisches Dampfboot 2021, S. 148-167.
Keller, Marisol: „‚When Clean Angels Calls, I run‘: Working Conditions of a Gigified Care-Worker“. In: Anke Strüver/Sybille Bauriedl (Hg.): Platformization of Urban Life. Towards a Technocapitalist Transformation of European Cities. Bielefeld: transcript 2022, S. 103-118. DOI: 10.14361/9783839459645-009
Sharma, Sarah: „Task Rabbit: The Gig Economy and Finding Time to Care Less“. In: Jeremy Wade Morris/Sarah Murray (Hg.): Appified: Culture in the Age of Apps. Ann Arbor: University of Michigan Press 2018, S. 63-71.
Wallis, Mira: „Digital Labour and Social Reproduction – Crowdwork in Germany and Romania“. In: spheres: Journal for Digital Cultures 2021, H. 6, S. 1-14. DOI: 10.25969/mediarep/18038
Winker, Gabriele: „Zur Krise sozialer Reproduktion“. In: Hans Baumann/Iris Bischel/Michael Gemperle/Ulrike Knobloch/Beat Ringger/Holger Schatz (Hg.): Care statt Crash. Sorgeökonomien und die Überwindung des Kapitalismus. Zürich: edition 8 2013, S. 119-133.
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15.06.2023