Was Amerika krank macht
Die Vereinigten Staaten befinden sich mitten in einer Gesundheitskrise der Bevölkerung. Prognosen sagen, dass die heute geborenen Amerikaner drei Jahre früher sterben werden als Gleichaltrige in anderen wohlhabenden Demokratien – die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie sind in den Berechnungen noch gar nicht berücksichtigt. Dieser Rückgang der Lebenserwartung ist beispiellos und besorgniserregend, denn die Daten zeigen auch, dass der Trend darauf zurückzuführen ist, dass sich der Gesundheitszustand von Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter verschlechtert. Am deutlichsten nehmen bei Männern und Frauen in dieser Altersgruppe die sogenannten Todesfälle aus Verzweiflung zu, also Drogenüberdosierung, Alkoholvergiftung und Selbstmord.
Sinkende wirtschaftliche Möglichkeiten eine der Hauptursachen
Wie lässt sich diese dramatische Entwicklung der Gesundheit der amerikanischen Bevölkerung erklären? Eine schnell wachsende Zahl von Forschungsergebnissen weist darauf hin, dass sinkende wirtschaftliche Möglichkeiten eine der Hauptursachen sind. Natürlich untersuchen Sozialwissenschaftler*innen seit Langem die Beziehung zwischen Gesundheit und Wirtschaft. Wir wissen zum Beispiel, dass sich Arbeitslosigkeit negativ auf die individuelle Gesundheit und das Wohlbefinden auswirkt. Meine Kollegen und ich sind jedoch der Meinung, dass wir ernsthaft untersuchen müssen, wie der Zusammenbruch wirtschaftlicher Möglichkeiten die Amerikaner krank macht.
Dies hat sich unser Opportunity for Health-Forschungslabor zur Aufgabe gemacht, das von meinem Kollegen Atheendar Venkataramani an der Universität von Pennsylvania geleitet wird. Unser Ziel ist es, Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften zu bündeln, um besser zu verstehen, wie sich die Chancenverteilung innerhalb einer Gesellschaft auf das individuelle Gesundheitsverhalten und den Gesundheitszustand der Bevölkerung auswirkt. Besonders wichtig ist es, die öffentlichen Maßnahmen und institutionellen Praktiken zu identifizieren, die einen Unterschied machen.
Was verstehen wir unter Chancen? In unserer Forschung operationalisieren wir diese Idee auf verschiedene Weise. Ein Maß für Chancen in einer Gesellschaft ist das Ausmaß der wirtschaftlichen Aufwärtsmobilität, das darüber Auskunft gibt, wie Kinder aus einkommensschwachen Familien in der Lage sind, als Erwachsene auf der Einkommensleiter aufzusteigen. Jüngste Schätzungen auf der Grundlage von Steuerdaten zeigen, dass der Anteil der Amerikaner*innen, die den „amerikanischen Traum“ verwirklichen und die es besser haben als ihre Eltern, im Laufe der Zeit stetig abnimmt. Die neuen Daten unterstreichen auch, dass die Chancen, sozial aufzusteigen, vom Wohnort abhängen.
In einer Studie haben wir beispielsweise festgestellt, dass die Sterblichkeit im erwerbsfähigen Alter in Teilen des Landes, die durch ein geringes Maß an Chancen gekennzeichnet sind, stärker anstieg. Dies stimmt mit Analysen von Umfragedaten überein, die zeigen, dass Menschen, die in Gegenden mit mehr Möglichkeiten leben, gesünder sind und seltener Alkohol oder Drogen konsumieren als vergleichbare Gleichaltrige in Gegenden mit weniger Möglichkeiten. Das Erwachsenwerden in einem Gebiet mit geringeren Chancen scheint die Hoffnung auf die Zukunft zu trüben und den Anreiz zu verringern, in Humankapital, einschließlich Gesundheit, zu investieren.
Wir können auch die gesundheitlichen Folgen der sinkenden Chancen untersuchen, die sich aus Veränderungen in der Wirtschaft ergeben. Vor allem die Deindustrialisierung hat die wirtschaftlichen Möglichkeiten in den Vereinigten Staaten grundlegend verändert. Man bedenke, dass 1980 fast jeder vierte Arbeitnehmer in den USA in einer güterproduzierenden Branche beschäftigt war, während es heute nur noch jeder zehnte ist. Aber es geht nicht nur um den Verlust von Arbeitsplätzen, sondern auch um den Verlust von Arbeitsplätzen, die gut bezahlt und oft mit Sozialleistungen wie Renten- und Krankenversicherungsschutz verbunden waren. Für amerikanische Arbeitnehmer*innen ohne Hochschulabschluss wurde mit dem Zusammenbruch des verarbeitenden Gewerbes ein Weg zum Aufstieg in die sichere Mittelschicht abgeschnitten. Der Zusammenbruch hat nicht nur die Arbeitnehmer*innen und ihre Familien, sondern auch ganze Gemeinden in Mitleidenschaft gezogen, da viele Städte und Gemeinden ihren größten und manchmal einzigen großen Arbeitgeber verloren haben. Wenn Arbeitsplätze verschwinden, wirkt sich das auf die Gesundheit der gesamten Gemeinschaft aus. In einer Studie haben wir gezeigt, dass die Schließung von Automobilmontagewerken zu einem kausalen Anstieg der Sterblichkeit durch Opioidüberdosierungen in der nahegelegenen Region führte.
Und es sind nicht nur akute Schocks wie Werksschließungen, die sich auf die Gesundheit auswirken. Ein Grund für den Verlust von Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe in den USA ist die zunehmende Automatisierung, insbesondere der Einsatz von Industrierobotern, die menschliche Arbeitskräfte verdrängen. Frühere Untersuchungen ergaben, dass der verstärkte Einsatz von Industrierobotern in den 1990er- und 2000er-Jahren zum Verlust von mehr als 700.000 Arbeitsplätzen führte. Diejenigen, die das Glück hatten, ihren Arbeitsplatz zu behalten, mussten dennoch einen Rückgang ihrer Reallöhne hinnehmen.
Unsere Untersuchung zu den Folgen der Automatisierung für die Gesundheit der Bevölkerung zeigt: der verstärkte Einsatz von Industrierobotern hat einen Anstieg der Sterblichkeit unter Menschen im erwerbsfähigen Alter zur Folge, was zum großen Teil auf Verzweiflungstodesfälle, insbesondere Todesfälle durch Überdosis, zurückzuführen ist. Bemerkenswert ist, dass die Stärke dieser Beziehung je nach politischem Kontext variiert. So erhöht die Automatisierung die Sterblichkeit in Staaten mit einer großzügigeren Einkommenssicherungspolitik weniger stark. Gleichzeitig haben wir festgestellt, dass die Automatisierung die Sterblichkeit in Staaten mit sogenannten „Right-to-Work“-Gesetzen,die eine gewerkschaftliche Organisierung verhindern, stärker erhöht. Dies unterstreicht, warum politische Maßnahmen wichtig sind, insbesondere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die Chancen verbessern, indem sie die Anzahl, Art und Qualität der Arbeitsplätze erhöhen, sowie ein soziales Sicherheitsnetz, das Haushalten hilft, mit wirtschaftlicher Prekarität umzugehen.
Doch nicht nur die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik macht einen Unterschied. Ein wichtiges Ziel unseres Forschungsprogramms ist es, die gesundheitlichen Folgen von Maßnahmen zu dokumentieren, die sich auf die Chancen auswirken. So haben beispielsweise in den letzten Jahren mehrere US-Bundesstaaten Fördermaßnahmen bei der Hochschulzulassung verboten, in dessen Folge sich die Zulassungschancen von Studierenden ethnischer Minderheiten verringert haben. Wir fanden heraus, dass diese Änderung zu einem kausalen Anstieg des Alkoholkonsums und des Rauchens bei Schüler*innen ethnischer Minderheiten geführt hat, dagegen ohne Auswirkungen auf weiße Schüler*innen blieb. Am beunruhigendsten ist vielleicht, dass diese erhöhten Raucherquoten bis zum Alter von 30 Jahren bestehen bleiben. Eine Änderung der Politik, die jungen Menschen Hoffnungen auf die Zukunft nimmt, wirkt sich auf das Gesundheitsverhalten im gesamten Lebensverlauf aus.
Eine Politik, die Chancen fördert, fördert auch die Gesundheit
Die gute Nachricht: So wie sich politische Maßnahmen, die Chancen verringern, negativ auf die Gesundheit auswirken können, können Maßnahmen, die Lebenschancen erhöhen, die Gesundheit verbessern. Nehmen wir das Deferred Action for Childhood Arrivals-Programm, eingeführt in der Obama-Ära, das die Abschiebung von Menschen ohne Papiere, die als Kinder in die USA eingereist sind, verhindert. Diese Politik hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Chancen dieser jungen Menschen und ermöglichte es ihnen, aus dem Schatten zu treten, um Arbeit und Bildung zu verfolgen. Wir haben festgestellt, dass dies auch messbare, positive Auswirkungen auf die Gesundheit hatte; ein Ergebnis, das von anderen Forschungsteams, die andere Daten und Messgrößen verwendeten, bestätigt wurde. Eine Politik, die Chancen fördert, fördert auch die Gesundheit.
Natürlich ist es wichtig zu betonen, dass diese Beziehung in beide Richtungen geht. Das heißt: Nicht nur die Chancen beeinflussen die Gesundheit, sondern auch die Gesundheit beeinflusst die Chancen. In anderen Arbeiten haben wir festgestellt, dass Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft staatlich krankenversichert waren, im Erwachsenenalter eine höhere Aufstiegsmobilität aufwiesen. Gleichzeitig stellen wir fest, dass Kohorten, die während der vorgeburtlichen Zeit einer höheren Luftverschmutzung ausgesetzt waren, im Erwachsenenalter eine geringere Aufwärtsmobilität aufweisen, ebenso wie Kohorten mit einer höheren Inzidenz von untergewichtigen Geburten. Diese Studien spiegeln eine umfangreiche Literatur wider, die einen positiven Zusammenhang zwischen der individuellen Gesundheit und den wirtschaftlichen Ergebnissen feststellt. Und sie legen nahe, dass eine Investition in die Gesundheit der Amerikaner auch eine Investition in Chancen ist.
Wir argumentieren, dass die Gesundheitskrise der amerikanischen Bevölkerung sowohl Ursache als auch Folge des schwindenden amerikanischen Traums ist. Diese Diagnose ist zwar deprimierend, bietet aber auch Hoffnung – und einen Plan zum Handeln. Zunächst müssen wir das Problem ganzheitlich angehen und erkennen, dass Chancenpolitik und Einkommensförderung auch Gesundheitspolitik ist und umgekehrt, dass Investitionen in die Gesundheit der Bevölkerung auch dazu dienen, prekäre Lebensverhältnisse zu verringern und die Aufwärtsmobilität zu fördern. Darüber hinaus motiviert diese Forschung dazu, Gesundheitsergebnisse in wirtschaftspolitische Kosten-Nutzen-Analysen und wirtschaftliche Ergebnisse in Analysen von Gesundheitsinvestitionen einzubeziehen. Unsere Ergebnisse unterstreichen auch die Notwendigkeit, ortsbezogene Investitionen zu tätigen – in Bildung, Arbeitsplätze, Infrastruktur und Gesundheitsversorgung –, die auf die am stärksten betroffenen Gemeinden ausgerichtet sind, die in einer Abwärtsspirale aus wenigen Arbeitsplätzen, geringeren Steuereinnahmen und Staatsausgaben sowie einer sich verschlechternden Gesundheit stecken. Die Wiederbelebung des amerikanischen Traums ist der einzige Weg, um die Gesundheitskrise der amerikanischen Bevölkerung zu beenden.
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