Briefeinwurf in gelben Briefkasten
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Auf dem Weg in die Post-Demokratie?

Von Aiko Wagner und Josephine Lichteblau

Das Thema Briefwahl ist aufgrund der Coronavirus-Pandemie aktueller denn je. Die Briefwahl wurde und wird weltweit gerade heiß diskutiert, wie im Vorfeld der bereits stattgefundenen französischen und bayrischen Regional- und Lokalwahlen oder mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen in Polen und in den USA. Auch für die Bundestagswahl 2021 wird überlegt, sie als reine Briefwahl stattfinden zu lassen. Auch jenseits der coronabedingten Sondersituation ist die Briefwahl in Deutschland von großer Bedeutung. Seit der deutschen Wiedervereinigung und insbesondere nachdem 2008 die Pflicht wegfiel, den Briefwahlantrag zu begründen, nimmt der Anteil der Briefwähler*innen stetig zu. Bei der Bundestagswahl 2017 nutzten fast 30 Prozent der Wähler*innen die Briefwahloption – so viele wie bei keiner Bundestagswahl zuvor. Doch nicht nur bei der Nutzungshäufigkeit der Briefwahl stellte die Wahl 2017 einen Rekord auf. Auch unterschieden sich die Stimmanteile der Parteien zwischen den Brief- und Urnenwähler*innen so stark wie noch nie. Umso überraschender ist es, dass die Briefwahl in Deutschland relativ wenig erforscht ist. Vor dem Hintergrund, dass die Bundestagswahl 2021 im Pandemiefall als reine Briefwahl stattfinden könnte und mit Berücksichtigung der Unterschiede im Abstimmungsverhalten beider Wähler*innengruppen, ist eine Untersuchung der Briefwahl und ihrer Nutzer*innen aufschlussreich.

Die Briefwahl ist auch in Deutschland umstritten. Kritiker*innen führen meist verfassungsrechtliche Argumentean: Immerhin werden gleich zwei Wahlrechtsgrundsätze potenziell verletzt bzw. deren Einhaltung kann bei der Briefwahl schlechter gewährleistet werden – die geheime und die freie Wahl. Befürworter*innen hingegen betonen den normativen Mehrwert der Briefwahl durch eine (potenziell) höhere Wahlbeteiligung und eine größere soziale Gleichheit in der Wahlbeteiligung. Doch was wissen wir empirisch darüber?

Einige Studien, zum Beispiel aus den USA, legen eine maximal leicht erhöhte Wahlbeteiligung durch die Einführung bzw. Ausweitung der Briefwahl und andere Arten der Stimmabgabe wie zum Beispiel vorab im Wahllokal oder online bei nationalen und regionalen Wahlen nahe. Dem Ziel, mehr soziale Gleichheit bei der Wahlbeteiligung zu erreichen, kommt man durch die Briefwahloption aber offenbar nicht näher. So zeigen einige Studien sogar, dass es gerade die sozioökonomisch Bessergestellten, formal höher Gebildeten sowie Menschen mit stärkerem politischen Interesse sind, die von der Option der Briefwahl Gebrauch machen. Es besteht also die Gefahr, dass die Briefwahl bereits existierende Ungleichheiten in der Wahlbeteiligung verschärft.

Doch was hat es mit den unterschiedlichen Stimmanteilen zwischen Brief- und Urnenwähler*innen auf sich? In einem kürzlich erschienenenArtikel widmen wir uns dieser Frage und untersuchen die Ursachen für das unterschiedliche Wahlverhalten der beiden Wähler*innengruppen bei der Bundestagswahl 2017. Hier konnten insbesondere die CDU/CSU und die AfD unterschiedliche Wahlerfolge bei den Brief- und Urnenwähler*innen erzielen. Während die Unionsparteien einen um fast fünf Prozentpunkte höheren Zweitstimmenanteil unter den Brief- als unter den Urnenwähler*innen verzeichneten (36,4 zu 31,5 Prozent), schnitt die AfD unter den Briefwähler*innen um 4,3 Prozentpunkte schlechter ab als unter den Präsenzwähler*innen (9,6 zu 13,9 Prozent). Die unterschiedlichen Stimmergebnisse sind jedoch nicht damit zu begründen, dass Briefwähler*innen andere Kriterien für ihre Wahlentscheidungen anlegen als Urnenwähler*innen. So spielen langfristige Parteiidentifikationen, Problemlösungskompetenzen, die Bewertung von Politiker*innen und die Leistungen von Parteien und Regierung sowie die ideologische Nähe zu den Parteien für die Stimmabgabe der Urnenwähler*innen die gleiche Rolle wie für die Stimmabgabe der Briefwähler*innen. Die Motive der Parteiwahl sind also gleich.

Die Unterschiede lassen sich vielmehr damit erklären, dass die Briefwähler*innen kein Querschnitt der Gesamtbevölkerung sind. Das bedeutet, dass Briefwähler*innen sich hinsichtlich einiger soziodemografischer und soziostruktureller Merkmale, die für die Wahlentscheidung relevant sind, von den Urnenwähler*innen unterscheiden. Insbesondere ein Blick auf die Region und den beruflichen Status helfen, die Stimmanteilsunterschiede der Unionsparteien und der AfD zwischen den Wähler*innentypen zu erklären: Westdeutsche geben ihre Stimme eher per Brief ab als Ostdeutsche. Zudem nutzen sowohl Selbstständige, Schüler*innen und Student*innen als auch Rentner*innen die Briefwahloption häufiger als Arbeiter*innen. Gleichzeitig neigen Westdeutsche und Rentner*innen eher dazu, die CDU/CSU zu wählen als Ostdeutsche, was das bessere Abschneiden der Unionparteien unter den Briefwähler*innen plausibel macht. Die AfD ist hingegen im Osten der Republik stärker als im Westen, das heißt, Ostdeutsche, die wie bereits erwähnt eher die Urnenwahl nutzen, neigen auch eher zur AfD-Wahl als Westdeutsche. Hinzu kommt, dass die AfD schwächere Ergebnisse unter den Briefwahl-affinen Renter*innen und Schüler*innen/Student*innen aufweist als in der Gruppe der Arbeiter*innen, die wiederum eine Präsenzwahl bevorzugen. Dies trägt zur Erklärung bei, warum die AfD unter den Briefwähler*Innen im Vergleich zu den Urnenwähler*innen schlechter abschneidet.

Sollte die nächste Bundestagswahl coronabedingt als reine Briefwahl stattfinden, nehmen wir nicht an, dass die Entscheidungsgrundlagen und Motive der Wahl andere wären als bei Präsenzwahlen. Da sich der zentrale Partizipations- und Entscheidungsmechanismus bei Wahlen nach gegenwärtiger Studienlage weitgehend unabhängig von der konkreten Art der Beteiligung erweist, wäre eine Verzerrung des Wahlergebnisses bei der Durchführung der Bundestagswahl 2021 als reine Briefwahl eher unwahrscheinlich.

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3. Juli 2020