Marionettenspiel
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Die Zukunft des Multilateralismus und der Wettbewerb der Systeme

Ein Beitrag von Michael Zürn

Die Unterscheidung zwischen demokratischen und autoritären Systemen ist für das politische Denken grundlegend und zentral. Für die Auswirkung der Corona-Pandemie auf die Zukunft des Multilateralismus und der internationalen Ordnung könnte sich aber eine andere Unterscheidung als bedeutsamer erwiesen.

Das 21. Jahrhundert kennt zum einen politische Systeme, die wissenschaftliche Erkenntnisse und die Binnenlogik anderer Funktionssysteme als besonders wichtige Eingaben in politische Entscheidungsprozesse anerkennen. Zu dieser Gruppe gehören Demokratien wie Deutschland und Südkorea, aber auch moderne Autokratien wie China und Singapur. Internationale Institutionen wie die WHO und die EU spielen dabei eine ähnliche Rolle wie die innenpolitischen Akteure, die wie Zentralbanken oder Verfassungsgerichte dem einfachen Mehrheitsprinzip enthoben sind. Sie werden aufgrund ihrer privilegierten Wissenspositionen als Autoritäten angehört (1). Die autoritäre Variante dieses Typus lehnt zwar Eingriffe durch internationale Institutionen ab, die sich auf die politische Ordnung und Menschenrechte beziehen. Generell aber werden die internationale Zusammenarbeit und der Multilateralismus als wünschenswert und notwendig betrachtet. Es handelt sich um expertisefreundliche Systeme.

Zum anderen gibt es Staaten mit populistischen Regierungschefs. Sie entziehen sich der Unterscheidung zwischen Demokratie und Autokratie, weil sie Bestandteile beider Ordnungen mischen. Ungarn und Türkei sind die Idealtypen, doch fallen auch die USA und Brasilien, zum Teil auch Großbritannien in diese Kategorie. Gemäß ihrer Funktionslogik soll der Mehrheits- und Volkswille unmittelbar wirken und nicht durch die pseudo-neutrale Expertise der juristischen, journalistischen oder wissenschaftlichen Funktionseliten getrübt werden. Zur Ermittlung des Mehrheitswillens bedarf es keiner komplexen Entscheidungsverfahren. Er wird vielmehr durch die Intuitionen des gewählten Staatschefs verwirklicht, der vor allem ein Merkmal aufzuweisen hat: Er darf nicht zur politischen Klasse gehören (2). Diese politischen Systeme sind vehemente Gegner des Multilateralismus und der internationalen Zusammenarbeit. Internationale Institutionen sind für sie Instrumente zur innenpolitischen Manipulation durch die kosmopolitische Elite. Sie sind die Verkörperung der Fremdherrschaft. Michael Gove hat in der Brexitdebatte gesagt: „Britains have had enough of experts“. Nennen wir diesen politischen Regimetypus daher expertenfeindliche Systeme.

Manche sehen die Coronakrise als den Todesstoß für den Multilateralismus. Die eher zurückhaltende Rolle der WHO, die langsame Reaktion der EU, Grenzschließungen und nationalistische Fremdschuldzuweisungen symbolisieren dieses Ende. Andere hingegen betonen, dass die Krise mit Nachdruck gezeigt habe, dass sich globale Probleme nicht durch nationale Abschottung lösen lassen. Im Ergebnis könnten die internationalen Institutionen erstarken und zumindest in Europa ein neuer Solidaritätsschub erwachsen. Solche direkten Lerneffekte aus der Krise werden jedoch mit der Zeit verblassen.

Viel wichtiger für die Zukunft der Global Governance ist die Frage, welche politischen Systeme und Ordnungsvorstellungen gestärkt oder geschwächt aus der Krise hervorgehen, abhängig davon, wie gut oder schlecht sie im Umgang mit der Pandemie abschneiden. Dabei zeichnet sich jetzt schon ab, dass die Differenz zwischen demokratischen und autoritären politischen Systemen keinen großen Unterschied macht. Ein Blick auf die Verlaufskurven der Infektionen und Todesfälle kennzeichnet beispielsweise sowohl das autokratische China (trotz der Zweifel an der Berichterstattung) als auch das demokratische Südkorea als erfolgreiche Krisenmanager. Und es gibt sowohl demokratische wie autokratische Länder, die weniger erfolgreich agiert haben, wie Spanien und Iran zeigen.

Gleichwohl zeichnet sich ein Muster ab. Und da kommt die andere Unterscheidung politischer Systeme ins Spiel. Die expertenfeindlichen populistischen Systeme haben die Warnungen von Fachleuten lange ignoriert und durch hausgemachte Einschätzungen starker Männer ersetzt. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro sprach von einem „Grippchen“, Boris Johnson folgte zunächst der Logik der Herdenimmunität, und Donald Trump behauptete zu lange, dass er alles im Griff habe. Schließlich war die bitter bestrafte späte politische Reaktion in der Lombardei von einer von Matteo Salvinis Lega Nord dominierten Regionalregierung zu verantworten. Das scheint kein Zufall zu sein. Populistisch dominierte Regierungen haben bisher keine gute Figur gemacht, eben weil sie Experten misstrauen. Der beobachtete Zusammenhang könnte auf den kausalen Zusammenhang verweisen, dass expertenfeindliche politische Systeme, die auf die populistischen Intuitionen ihrer Regierungschefs setzen, keine guten Krisenmanager sind.

Es ist aber zu früh, den Rückgang des autoritären Populismus zu konstatieren. Zum Ersten müssen sich die Zusammenhänge noch bestätigen, wenn wir am Ende der Krise erfolgreiche und scheiternde politische Systeme klarer unterscheiden können. Zum Zweiten hängt die Definition von Erfolg und Scheitern nicht nur von objektiven Begebenheiten, sondern auch von politischen Deutungskämpfen ab. Dieser Kampf um die Deutung der Ursachen und der richtigen Instrumente zu ihrer Bekämpfung hat bereits begonnen. Bekanntermaßen sind die autoritären Populisten in dieser Disziplin besonders gut; der objektive Zusammenhang könnte also politisch unsichtbar bleiben. Drittens ist zu erwarten, dass die ökonomischen Mittelfristeffekte der Krise den Aufstieg autoritärer Populisten eher begünstigen. Es ist also noch vieles offen. Wenn es aber um die Zukunft des Multilateralismus und der internationalen Zusammenarbeit geht, dann könnte sich das gegenwärtige Scheitern der Volkstribunen als eine gute Nachricht erweisen.

 

(1) Michael Zürn 2018, A Theory of Global Governance. Oxford U.P.

(2) Nadia Urbinati 2019, Me The People, Harvard U.P.

 

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16. April 2020