Gemeinsam Arbeit gestalten
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Digitalisierung - strategischer Baustein zur Aufwertung von Arbeit

Die Debatte um die Digitalisierung der Arbeitswelt ist nun wahrlich nicht neu. Das Problem: Sie hat sich – seit „Arbeiten Vier Null“ – sehr lange im Kreis gedreht. Der Diskurs war und ist wichtig, doch reicht allein natürlich nicht. Wer ewig nur über „Chancen und Risiken“ philosophiert, erreicht bestenfalls Stillstand. Und das ist nicht gut, schon gar nicht im Lichte der Schwindel erregenden Dynamik der technologischen Entwicklung. Gleichzeitig steigen die Arbeitsbelastungen – und zwar durch die Digitalisierung. Der Handlungsdruck ist groß, auch aus ökonomischer Sicht. Doch bislang fehlt es an einer politischen Strategie für digitale Arbeit und an einer zielgerichteten Umsetzung – Leuchtturmprojekte können das nicht ersetzen. Und dass wir mehr Weiterbildung brauchen – nun, das sagt uns inzwischen ChatGPT, eben weil es ein Thema ist, das seit vielen Jahren nicht wirklich gelöst worden ist. Oder schauen wir uns die Debatte um Homeoffice an: Für viele längst New Normal – und leider oft ein völlig unzureichendes Synonym für digitale Arbeit. Die Schattenseiten sind längst erkennbar und Lösungen liegen auf dem Tisch. Politisch bleibt es allerdings noch immer im Klein-Klein. Dazu wirken und lähmen antiquierte Antagonismen. So bleiben die Potenziale von mobiler Arbeit für mehr Nachhaltigkeit – auch und gerade für nachhaltiges Arbeiten – leider oft auf der Strecke. Auch im Falle Künstlicher Intelligenz: Ein Diskurs, der für viele abstrakt bleibt, obwohl KI längst zum Alltag gehört. Mit ChatGPT wird KI zwar für viele begreifbarer. Doch auch hier werden die Potenziale nicht abgerufen, bleiben ungenutzt – und das muss sich schleunigst ändern.

Die Zeit könnte nun reif sein. Denn es kommt ein neuer Spin in die Debatte. Stichwort: Fachkräftemangel. Nur zur Erinnerung: Vor genau zehn Jahren sorgten Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne mit ihrer Studie „Future of Employment“ noch für große Aufregung: Angeblich sollten 47 Prozent der Jobs durch die Digitalisierung in Gefahr sein. Derartige Szenarien sind mehr als zweifelhaft – und haben sich auch nicht bestätigt. Ähnliches erleben wir heute aber auch beim Thema KI. In vielen Köpfen wird Automatisierung noch immer mit Jobverlusten und Rationalisierung gleichgesetzt. Ich bin hingegen überzeugt, dass wir mehr Automatisierung brauchen – und zwar wegen der demografischen Entwicklung. Nicht mit dem Rotstift, sondern als strategisches Element. Fach- und Arbeitskräftemangel ist heute schon spürbar, doch ein laues Lüftchen gegenüber dem, was uns in den nächsten zehn bis 15 Jahren erwartet. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist bis zum Jahr 2035 mit einem Rückgang des Arbeitskräfteangebots um mehr als sieben Millionen Menschen zu rechnen. Diese Lücke kann durch die gezielte Förderung der Erwerbstätigkeit von Jungen und Frauen, eine Qualifizierungsoffensive sowie mit einer neue Zuwanderungspolitik relativiert, vermutlich jedoch nicht geschlossen werden. Die Frage ist deshalb, wie die digitale Automatisierung als weiterer Baustein gegen den Fachkräftemangel der Zukunft sinnvoll eingesetzt werden kann. Damit meine ich natürlich nicht, dass Tätigkeiten oder Berufe, in denen es knapp wird, einfach digitalisiert oder automatisiert werden könnten.

„Nutzen wir also die Digitalisierung für eine nachhaltige Humanisierung der Arbeit. So wird aus weniger mehr: für die Gesundheit, das Leben, für Produktivität, Wertschöpfung und gesellschaftlichen Fortschritt. Geht nicht? Doch: das geht.“

Digitalisierung und Automatisierung sollten vielmehr strategisch dazu genutzt werden, die Beschäftigten zu entlasten und Fachkräfte so länger fit zu halten. Schließlich geht es nicht nur um neue Fachkräfte, sondern auch um diejenigen, die bereits im Arbeitsleben stehen – und leider viel zu oft frühzeitig aufgeben müssen: Von jedem neuen Rentner*innen-Jahrgang geht rund ein Fünftel aus gesundheitlichen Gründen in die Erwerbsminderungsrente, im Schnitt mit 52 Jahren. Das kann sich niemand leisten, auch nicht unsere Gesellschaft. Nutzen wir also die Digitalisierung für eine nachhaltige Humanisierung der Arbeit. So wird aus weniger mehr: für die Gesundheit, das Leben, für Produktivität, Wertschöpfung und gesellschaftlichen Fortschritt. Geht nicht? Doch: das geht.

Wir können heute relativ gut absehen, wie sich die Demografie auswirken wird: Nehmen wir das Beispiel Pflege: Hochrechnungen gehen davon aus, dass die Zahl der pflegebedürftigen Menschen um 30 Prozent oder sogar mehr steigen wird. Gleichzeitig wird die Zahl der Erwerbstätigen erheblich sinken. Betrachten wir den Pflegenotstand, den wir schon heute haben, könnte einem schon angst und bange werden. Es muss deshalb strategisch darum gehen, dass Pflegekräfte so entlastet werden, dass ihre Arbeit aufgewertet wird und sie länger gesund ihren Job machen können. Die Digitalisierung kann – und sollte – hier eine entscheidende Hilfe sein. Selbst in diesem sensiblen Bereich bieten digitale Assistenz- und Automatisierungssysteme große Potenziale, insbesondere zur physischen und psychischen Unterstützung der Pflegekräfte. Es geht hier also nicht darum, menschliche Zuwendung und Fürsorge zu ersetzen oder fragwürdige Service-Roboter einzusetzen. Digitale Technologien sollen vielmehr dazu beitragen, die Handlungsspielräume für die personengebundenen Kernprozesse zu stärken. Dies kann durch „intelligente“ Assistenzsysteme gelingen. Nur müssen diese Systeme auch intelligent eingesetzt werden. Und das ist keine Frage der Technik, sondern der strategischen Vernetzung notwendiger Kompetenzen sowie einer klugen Arbeitsorganisation. Es gilt also, nicht nur technische Funktionalitäten zu entwickeln, sondern die Einbindung neuer Technologien in pflegerische Arbeits- und Organisationsprozesse rechtzeitig und ausreichend zu berücksichtigen. Dieser Ansatz unterscheidet sich von „Automatisierung mit dem Rotstift“, die am Ende zu noch mehr Arbeitsverdichtung und Entfremdung führt. Und ja, genau das könnte am Ende auch passieren: Dass der Einsatz von digitalen Tools und Robotern die Pflege unmenschlich macht. Genau deshalb kommt es so entscheidend auf die Gestaltung von Technik und Arbeit als „soziotechnisches System“ an. Und hierfür gibt es gute Ansätze, denen bislang allerdings noch die Skalierung fehlt.

Ein anderes gutes Beispiel ist die Bundesagentur für Arbeit. Die Vorstandsvorsitzende Andrea Nahles hat die „Dekade der Automatisierung“ ausgerufen – und zwar nicht, weil sie Mitarbeiter*innen loswerden will, sondern weil sie in den nächsten zehn Jahren 40.000 Beschäftigte aus Altersgründen verlieren wird. Eine Antwort auf die Fachkräftelücke ist auch hier die Automatisierung und Digitalisierung der Prozesse. Dafür hat sich die Bundesagentur der Initiative „Human Friendly Automation“ angeschlossen. Dabei geht es um Digitalisierungsprozesse, die gemeinsam mit den Beschäftigten entwickelt werden. Das Ziel: Bessere Arbeitsbedingungen durch Algorithmen, KI und Automatisierung, um so die demografischen Effekte auszugleichen und den Service aufrechtzuerhalten und zu verbessern.

Wie sich andeutet, verbinden sich mit der Nutzung von digitalen, algorithmischen oder KI-gestützten Systemen in der Arbeitswelt oft Zielkonflikte, die nicht nur in der Pflege als Werte-Konflikte wahrgenommen werden müssen. Dazu zählen insbesondere Sicherheit und Kontrolle, der Schutz der Privatsphäre, die Handlungs- und Entscheidungsspielräume und Verantwortlichkeiten oder auch Fragen der Autonomie. Letztlich geht es sogar um die Arbeitsidentität. Dies ist jedoch keine abgehobene „Ethik-Debatte“, sondern eine essenzielle Grundlage für die künftige Ausrichtung zur nachhaltigen Nutzung digitaler Technologien.

„Schwierig wird es natürlich, wenn Beschäftigte betriebswirtschaftlich ‚optimiert‘ werden, indem sie algorithmisch gemanagt, gesteuert und kontrolliert werden, – so dass sie selbst immer mehr wie Maschinen funktionieren müssen.“

Digitale Automatisierung bedeutet nüchtern betrachtet: Optimierung. Doch dabei bewegen wir uns auf einem schmalen Grat. Denn algorithmische oder KI-gestützte Systeme können sich sehr unterschiedlich auf Arbeitsqualität und Beschäftigung auswirken. Die entscheidende Frage ist, was oder wer mit welcher Zielsetzung optimiert werden soll. Die Möglichkeiten reichen von Unterstützung, Entlastung und Aufwertung auf der einen Seite bis hin zu Überwachung, Arbeitsintensivierung, Simplifizierung, Arbeitsplatzverlusten oder Entfremdung auf der anderen Seite. Schwierig wird es natürlich, wenn Beschäftigte betriebswirtschaftlich ‚optimiert‘ werden, indem sie algorithmisch gemanagt, gesteuert und kontrolliert werden, – so dass sie selbst immer mehr wie Maschinen funktionieren müssen. Ein herber arbeitspolitischer Rückschritt, der sich vor allem bei so genannten Plattform-Diensten verbreitet. Ein anderer wichtiger Punkt: Algorithmische oder KI-gestützte Arbeitsassistenzsysteme sind oft mit persönlichen Leistungs- und Verhaltens- oder sogar Vital- und Gesundheitsdaten verknüpft. Besonders sensibel sind dabei verhaltensorientierte Systeme wie ‚Workplace Analytics‘, die sogar das zukünftige Verhalten oder persönliche Einstellungen von Beschäftigten prognostizieren. Auch hierfür braucht es Regeln. Dazu gehört, dass Fragen des Datenschutzes geklärt werden, um die digitale Unterstützung überhaupt realisieren zu können – und zwar, ohne dass ein algorithmisches Kontroll- und Überwachungssystem entsteht. Am Ende geht es auch um die Frage, wie viel Handlungsspielraum den Beschäftigten bleibt – etwa bei Entscheidungsunterstützung oder KI-gestützte„Empfehlungen“. Wie gehen wir damit um?

Es stellen sich also neue Fragen. Die Arbeitsgestaltung wird anspruchsvoller. Und deshalb braucht es neue Wege, neue Prozesse und ein neues Mindset bei den Akteuren der Arbeit. Gefragt sind neue Ansätze für die präventive Gestaltung algorithmischer oder KI-gestützter Arbeitsassistenzsysteme. Dies setzt zunächst – und zwar generell – Transparenz über die Wirkungsweisen der Technologien voraus, um strategische Ziele festzulegen, Kritikalitäten zu bestimmen und betriebliche Folgenabschätzungen vorzunehmen. Denn darauf kommt es ganz entscheidend an. Hier könnte die KI-Verordnung der EU helfen, vorausgesetzt es wird an den richtigen Stellen nachgebessert. Im konkreten betrieblichen Anwendungsbereich stellt sich dann die Frage, wie sich die Stellen- und Belastungsprofile von Beschäftigten verändern. Nicht selten braucht es dafür zusätzliche Qualifizierung oder Umschulungen, wenn ganze Tätigkeitsbereiche automatisiert werden. Dafür braucht es innovative Change Impact Management-Prozesse. Der DGB hat dazu bereits im Jahr 2019 den Ansatz ‚Gute Arbeit by design‘ entwickelt und die besonderen Herausforderungen formuliert, die sich durch KI für die Arbeitsgestaltung ergeben. Im Jahr 2020 hat der DGB entsprechende Leitlinien formuliert. Dabei geht es im Kern um einen ganzheitlichen Ansatz mit der frühzeitigen, durchgehenden Einbindung und Mitbestimmung der Beschäftigten und ihrer betrieblichen Interessenvertretungen. Inzwischen gibt es unterschiedliche Ansätze und Projekte, die im Grundsatz der gewerkschaftlichen Initiative ähneln und auch konkret umgesetzt werden. Fakt ist aber auch, dass „Leuchtturmprojekte“ bislang noch keine Breitenwirkung entfalten. Genau das sollte sich schnell ändern. Und hier steht auch die Politik in der Verantwortung: So sollten die Erkenntnisse und Empfehlungen aus Praxis und Forschung auch politisch umgesetzt werden. Konkret: Es braucht verbindliche Regeln im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes, um die rechtzeitige Einbindung der Betriebsräte sicherzustellen und die neuen Wege auch in der Breite begehbar zu machen.

Auch sollte mehr Rechtssicherheit im Umgang mit Datenanalytik und automatisierten Entscheidungsempfehlungen geschaffen werden. Denn wir sprechen längst nicht mehr (nur) über Überwachung und Kontrolle mit der einfachen Videokamera: Es geht insbesondere darum, wie sich automatisierte Entscheidungssysteme auf die Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Sicherheit sowie die Grundrechte der Beschäftigten auswirken. Dafür ist die Folgenabschätzung verbindlich zu konkretisieren und mitbestimmungsrechtlich abzusichern. So muss zum Beispiel die Frage der Verantwortung im Umgang mit Entscheidungsempfehlungen geklärt werden.

Generell sollten arbeitsrechtliche Konsequenzen für Beschäftigte aus dem Umgang mit automatisierten Entscheidungsvorschlägen ausgeschlossen werden. Gleiches sollte für die Nutzung prädiktiver Analytik und die Verarbeitung von Beschäftigtendaten gelten, die unwillentlich entstehen. Ausnahmen sind natürlich denkbar, wenn es um Leib und Leben geht. Dafür sollten dann aber besondere Beteiligungsverfahren für die Beschäftigten vorgesehen werden. Grundsätzlich muss gelten: Beschäftigte dürfen nicht zum Objekt von automatisierten Entscheidungssystemen gemacht werden. Einige wichtige Schritte also, mit denen Akzeptanz und Vertrauen in Betrieben nachhaltig gefördert werden können – und zwar auf beiden Seiten. So kommen wir dem Ziel, Gute Arbeit zu fördern und die Fachkräftesicherung durch moderne Technologien zu unterstützen, wirksam näher – auch dort, wo es fehlt: in der Breite.

25.09.2023