Nach der Pandemie wieder in der Dauerkrise? Erschöpftes Care-Ethos im Gesundheitswesen
Als Anfang April 2023 Gesundheitsminister Karl Lauterbach offiziell das Ende der Corona-Pandemie in Deutschland verkündete[1] und damit auch das Ende aller staatlich verordneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, rieb sich der/die eine oder andere verwundert die Augen. Erst jetzt? Es ist doch schon lange vorbei, so der allgemeine Eindruck. Auch wenn die gemeldeten Infektionszahlen wieder ansteigen, sei dies keine beunruhigende Situation – so der Präsident des RKI, Lars Schaade.
Die Aufarbeitung der Corona-Pandemie hat bereits begonnen. Besonders kontrovers diskutiert werden die politischen Entscheidungen für mehrere harte Lockdowns im März 2020 und zum Jahreswechsel 2020/21 und die damit einhergehende (Teil-)Schließung von Schulen, Kinderbetreuungs- und Jugendeinrichtungen.
In der kritischen Aufarbeitung der Maßnahmen erhalten jedoch einige Aspekte vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit: Erstens werden die Faktoren „Unbestimmtheit“ und „Nicht-Wissen“ im Zusammenhang mit dem im Grundgesetz verankerten „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ in der postpandemischen Analyse der damaligen Güterabwägung kaum berücksichtigt. Zu Beginn fehlte schlichtweg das Wissen über das Virus, die Wege der Ansteckung und die gesundheitlichen Risiken. Der Lockdown mit seinen rückblickend teils bizarren und teils problematischen Regeln für das Zusammenkommen von Personen aus einem oder mehreren Haushalten schien zeitweise das geeignete Instrument zu sein, um die Zahl der Ansteckungen zu reduzieren. Und es wird zweitens vielfach vergessen, dass es bei den Schulschließungen nicht nur darum ging, die Kinder und ihre Familien zu schützen, sondern insbesondere auch die Erzieher*innen und Lehrkräfte, die wie andere systemrelevante Berufsgruppen vor Ort gearbeitet haben. Drittens wird kaum mehr thematisiert, dass viele Krankenhäuser in den ersten beiden Corona-Wellen mit zu vielen Einweisungen von Corona-Infizierten Personen überfordert waren und die Gesundheitsversorgung auch hinsichtlich der Behandlung anderer Krankheiten nicht mehr durchgehend sichergestellt werden konnte. Der sogenannte „Hospitalisierungsindex“ sollte anzeigen, wie viele „viele Covid-19-Patienten pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche in eine Klinik eingewiesen wurden“. Als Maßstab zur Entscheidung über Corona-Schutzmaßnahmen war er während der Pandemie umstritten. Als Indikator für die Be- und Überlastung der Krankenhäuser und der dort arbeitenden Personen und damit auch für die Gewährleistung guter medizinischer und pflegerischer Versorgung, konnte er jedoch Anhaltspunkte geben.
Unsere Studie „Double Fragility: The Care Crisis in the Corona Crisis"[2] zeigt, dass der zeitweise starke Anstieg der zu behandelnden Patient*innen während der COVID-19-Pandemie, der erhöhte Behandlungs- und Versorgungsbedarf und die damit verbundenen ständigen Veränderungen in der Arbeitsorganisation nur durch viele Überstunden und ein hohes Engagement der Ärzt*innen und des Pflegepersonals bewältigt werden konnten. Diese Bereitschaft zur Mehrarbeit ist Teil eines spezifischen beruflichen Berufs- bzw. Care-Ethos, das viele Beschäftigte im Gesundheitsbereich mitbringen und das, so unsere These, strukturell ausgenutzt wird. Mit „Care-Ethos“ wird ein besonderes berufliches Selbstverständnis bezeichnet, das Eva Senghaas-Knobloch als Haltung der Verantwortlichkeit, Zuwendung und Empathie beschrieben hat und das von dem normativen Anspruch geleitet ist, Kranke und Pflegebedürftige gut zu versorgen. Dabei ist es kein Zufall, dass es sich bei den Gesundheits- und insbesondere den Pflegeberufen trotz des steigenden Anteils von Männern, die eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegefachkraft beginnen um typische „Frauenberufe“ handelt.
Historische Rekonstruktionen zeigen, so ebenfalls Senghaas-Knobloch, dass gerade Frauen eine Haltung der Verantwortlichkeit, Zuwendung und Empathie zugeschrieben wurde und zugleich diese Wesensmerkmale als typisch weibliche Eigenschaften naturalisiert wurden. Diese geschlechtliche Zuschreibung ist Ursache und Ergebnis der gesellschaftlichen Abwertung von Sorge und Fürsorge.[3]
Dieses Care-Ethos kann einerseits – so zeigen unsere Forschungen[4] – als individuelle Strategie zur Bewältigung der hohen Arbeitsbelastung gesehen werden und dient andererseits als Mittel zur Kompensation der vergleichsweise geringen finanziellen Gratifikation – auch wenn die Verdienste von Beschäftigten in der Pflege in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich gestiegen sind.
Care-Ethos als Ressource
Bereits vor Beginn der COVID-19 Pandemie wurden Krankenhäuser in Österreich und Deutschland durch Budgetkürzungen und Privatisierung, in Deutschland insbesondere durch die Einführung von Fallpauschalen dem (Preis-)Wettbewerb ausgesetzt. In der Folge kam es zu Personalabbau und Arbeitsverdichtung und damit zu einer Situation, in der es immer weniger möglich ist, eine ausreichende und qualitativ hochwertige Versorgung der Patient*innen bereitzustellen. Der Personalmangel im Gesundheitssektor betrifft sowohl das pflegerische als auch das ärztliche Personal. Bereits vor der Pandemie fehlten in den Krankenhäusern in Deutschland mehr als 100.000 Vollzeitkrankenpfleger*innen und 76.000 Personen im Pflegesektor in Österreich. Bereits im Regelbetrieb verlassen sich deshalb die Krankenhäuser darauf, dass die Beschäftigten trotz widriger Umstände die Versorgung der Patient*innen sicherstellen, weil es sich um einen Beruf handelt, der für die meisten Beschäftigten sinnstiftend ist und sie – wie der DGB-Index „Gute Arbeit“ vor der Pandemie gezeigt hat[5] –den Eindruck haben, mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.
Das Care-Ethos ist somit eine wichtige Ressource für die Beschäftigten, um Arbeitsbelastungen besser zu bewältigen und es ist angesichts der strukturellen Unterfinanzierung des Gesundheitswesens zugleich auch eine zentrale Ressource zur Gewährleistung seiner Funktionsfähigkeit. Die Behandlung und Versorgung kranker Menschen basiert auf der Ausnutzung dieses besonderen Arbeits- und Berufsethos der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Diese sind in ihrer professionellen Tätigkeit permanent gefordert, ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten des höheren Zwecks der Krankenversorgung zurückzustellen. Eine österreichische Pflegeleiterin beschreibt, dass alle im Krankenhaus in so einer Situation wie der COVID-19 Pandemie „da“ sind und für den „Job brennen“. Wie stark dieses Berufs-Ethos ausgeprägt ist, zeigte sich in unseren Interviews unter anderem daran, dass auch Pflegekräfte, die mittlerweile im Management tätig sind, während der Pandemie mit großer Selbstverständlichkeit „am Bett“ aushalfen.[6]
Im Zuge der COVID-19-Pandemie geriet das Care-Ethos jedoch dort an seine Grenzen, wo die hohe Arbeitsbelastung andauerte, ohne dass eine entsprechende Anerkennung und Entlastung erfolgten.
Weil die Beschäftigten im Krankenhaus – Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen – über viele Monate unter enormem Druck, mit erhöhtem zeitlichem Einsatz, unter gesundheitlicher Gefährdung und häufig auf Kosten ihrer Kinder alles für die Versorgung der Patient*innen gegeben haben, hatten sie, insbesondere nach der öffentlich gemachten Wertschätzung ihrer Arbeit die Erwartung, mehr Ressourcen zu erhalten. Umso deutlicher zeigten sich Enttäuschung, Unmut und Frustration, als von Seiten der Politik keine glaubhaften Signale für eine strukturelle Verbesserung der Situation gegeben wurden, in der Pflege vor allem hinsichtlich einer besseren Entlohnung und/oder einer Erweiterung des Beschäftigtenpools. So haben sich Hoffnungen auf eine grundsätzliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Gesundheits- und Pflegeberufen bisher nicht erfüllt. Vielmehr bedeutet die strukturelle Personalknappheit für die Beschäftigten, dass für sie auch nach der Pandemie kaum Aussicht auf ausreichende Erholungszeiten, Möglichkeiten zum Abbau von Überstunden oder längere Urlaubszeiten besteht. Viele Beschäftigte leiden darunter, die Patient*innen nicht mehr so versorgen zu können, wie sie es eigentlich möchten und es überrascht nicht, dass ein Großteil der Pflegekräfte überlegt (hat), den Beruf oder den Arbeitgeber zu wechseln.
In der COVID-19 Pandemie war es überwiegend diesem Care-Ethos und der individuellen Bereitschaft der Beschäftigten zu Flexibilität und Mehrarbeit zu verdanken, dass die Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen sichergestellt werden konnte. Angesichts bislang ausbleibender struktureller Reformen und fehlender Perspektiven auf zukünftig verbesserte Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor stellt sich die Frage, ob sich die Gesellschaft dauerhaft darauf verlassen kann und will, dass die Gesundheitsversorgung durch diesen individuellen (Mehr-)Einsatz und das Care-Ethos der Beschäftigten sichergestellt wird. Bei einer anhaltenden strukturellen Überforderung der Beschäftigten ist zu befürchten, dass die Patient*innenversorgung nicht mehr den Bedarfen entspricht und die Qualität der gesundheitlichen Pflege auf Dauer nicht sichergestellt werden kann.
Ausblick
Die Überwindung der Dauerkrise in der Gesundheitsversorgung erfordert von daher eine grundlegende Reform, die sich an der Frage orientieren müsste, wie eine gute Versorgung der Patient*innen bei gleichzeitig guten Arbeitsbedingungen sichergestellt werden kann. Konzeptionell eignet sich dafür der von Nassim Taleb 2018 in die Debatte gebrachten Begriff der „Anti-Fragilität“. Damit ist eine Perspektive gemeint, die sich nicht darauf beschränkt, dass Krisen überstanden werden können (Resilienz), sondern die darauf abzielt, dass ein System verbessert aus der Krise hervorgeht. Inwiefern die geplante Gesundheitsreform das leisten kann, ist noch offen. Die geplante Abschaffung der Fallpauschalen ist ein Schritt in die richtige Richtung, es bedarf jedoch auch einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen, um die nächste Krise abzuwenden.
[1] Einen Monat später, am 5.5.2023 hob die Weltgesundheitsorganisation WHO den weltweiten Corona-Gesundheitsnotstand auf [https://www.who.int/news-room/speeches/item/who-director-general-s-open…)
[2] Das Forschungsprojekt „Double Fragility: The Care Crisis in the Corona Crisis“ wurde von der VolkswagenStiftung im Rahmen der Förderinitiative „Corona Crisis and Beyond – Perspectives for Science, Scholarship and Society“ gefördert. Projektleitung: Alexandra Scheele (Universität Bielefeld), Projektpartnerinnen: Nadja Bergmann (L&R Sozialforschung, Wien), Helene Schiffbänker (Joanneum Research, Graz/Wien).
[3] Scheele, Alexandra, 2019: Abwertung von Care-Arbeit durch Vergeschlechtlichung. In: Rudolph, Clarissa/Schmidt, Katja (Hg.): Interessenvertretung und Care. Voraussetzungen, Akteure, Handlungsebenen. Münster, 24-36.
[4] Scheele, Alexandra/Schiffbänker, Helene/Walker, David/Wienkamp, Greta (2023): Fragile Sorge: Zumutungen und Konflikte während der COVID-19-Pandemie. Femina Politica 32(1), 38-53.
[5] Schmucker, Rolf, 2019: Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen. Ergebnisse einer Sonderauswertung der Beschäftigtenbefragung zum DGB-Index Gute Arbeit. In: Jacobs, Klaus/Kuhlmey, Adelheid/Greß, Stefan/Klauber, Jürgen/Schwinger, Antje (Hg.): Pflege-Report 2019. Mehr Personal in der Langzeitpflege – aber woher? Berlin, Heidelberg, 50-59.
[6] Scheele, Alexandra/Schiffbänker, Helene/Walker, David/Wienkamp, Greta (2023): Double Fragility: The Care Crisis in Times of Pandemic. Gender and Research 24(1), 11-35.
25.10.2023