Im Krisenmodus
War die Pandemie ein Jahrhundertereignis? Oder ist sie lediglich eine Krise unter vielen, die bald von anderen säkularen Krisen überschattet wird? Vieles spricht dafür, dass beides zutrifft: Die Pandemie hat die Gesellschaft verändert und war zugleich so etwas wie die Ouvertüre für einen permanenten Krisenmodus. Und sie war ein Lackmustest dafür, wie unsere Gesellschaft dafür aufgestellt ist, Krisen zu bewältigen.
Für diese Bewältigung muss die Gesellschaft zusammenhalten. Doch die Pandemie hat den Kitt der Gesellschaft, die soziale Gerechtigkeit, untergraben und gesellschaftlicher Polarisierung Vorschub geleistet. Besonders in der Arbeitswelt existieren gespaltene Erfahrungswelten. Das mobile Arbeiten wird derzeit unter dem wohlklingenden Stichwort „New Work“ verhandelt. Dieser Begriff steht ursprünglich für eine Arbeitswelt, die sich an die Bedürfnisse der Menschen anpasst statt sie in ein zweckrationales Korsett zu pressen. Gewiss entspricht die heutige Praxis im Homeoffice nicht immer solch kühnen Visionen. Oftmals geht es mit Arbeitsverdichtung einher – eher „Zoom Fatigue“ also als selbstbestimmtes Arbeiten also. Dennoch: das mobile Arbeiten hat Ansprüchen an eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben weiter Auftrieb gegeben, zumindest wenn es darum geht, Pendelstreß zu reduzieren und Arbeitszeiten flexibler an private Ansprüche anzupassen. Dies gilt jedoch kaum für knapp 60 Prozent der Beschäftigten, die nicht mobil arbeiten können. Ihre Arbeit gilt nicht als „New Work“ und ihre Erfahrungswelt ist nicht von kühnen Experimenten für die bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben geprägt. Die mediale Aufmerksamkeit für die systemrelevanten Jobs ist zudem meist verebbt.
Auch die Erfahrungen mit der Digitalisierung sind zutiefst gespalten. Der Digitalisierungsschub betrifft hauptsächlich jene Unternehmen, die sowieso schon zu den Vorreitern gehörten. Knapp die Hälfte der bereits stark digitalisierten Unternehmen berichtet einer Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) zufolge, dass während der Pandemie zusätzliche Investitionen in Digitalisierungsprojekte getätigt wurden; unter den nur geringfügig digitalisierten Unternehmen war das nur bei ein Fünftel der Firmen der Fall. Die Kluft zwischen Vorreiterunternehmen und Nachzüglern wurde während der Pandemie also noch größer. Die Nachzügler und ihre Beschäftigten laufen Gefahr endgültig abgehängt zu werden.
Schließlich vertieft sich auch die Kluft zwischen den steilen Gewinnkurven der Tech-Konzerne und der zunehmend krisenhaften Entwicklung der restlichen Ökonomie. Die Pandemie trieb die Nutzung von E-Commerce, Cloud-Infrastruktur und -Software weiter in die Höhe. Nicht nur die Gewinne der Technologiegiganten explodierten, sondern auch das Vermögen ihrer führenden Respräsentanten. Die Einbindung von ChatGPT in die Microsoft-Produktwelt verfestigt die Dominanz der Plattformmonopolisten. Dem steht eine chronische Unterfinanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge gegenüber, insbesondere, wie es in der Pandemie schmerzlich erfahrbar wurde, der Bereiche der Pflege und der Gesundheit. Hoffnungen auf eine Entlastung durch den Einsatz digitaler Technik haben sich hier zudem kaum erfüllt.
Die Pandemie war insofern nicht nur aufgrund der Kontroversen um Masken und Kontaktverbote ein Ereignis, das gesellschaftliche Spaltungen vertieft hat. In welchem Ausmaß wird erst allmählich klar, denn die sozialen Folgen der Pandemie wurden zunächst durch niedrigere Konsumausgaben und staatliche Hilfsprogramme überlagert. Erst jetzt, drei Jahre nach der Pandemie und forciert durch die Inflation, werden sie wirklich spürbar.
Eine Gesellschaft, die in Zukunft noch viel existenziellere Krisen bewältigen muss als die Pandemie, benötigt jedoch soziale Kohärenz. Wie auch die Bedrohung durch Viren erfordert die Bekämpfung des Klimawandels Solidarität, um Änderungen in der Besteuerung, die Regulation von Wohnen, Mobilität und Energie und sogar die Veränderungen individueller Verhaltensweisen zu verarbeiten. In einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft wird das nicht funktionieren. Gesellschaft im Krisenmodus ist daher auf Gerechtigkeit angewiesen.
Der Politik kommt in dieser Situation die Aufgabe zu, das soziale Fundament unserer Gesellschaft, die von eskalierender Vermögensungleichheit geprägt ist, grundlegend zu erneuern. Für die Sozialpartner, für Gewerkschaften und Arbeitgeber, stellt sich wiederum die Frage, wie stabile Erwerbsbiografien und die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben auch im Zeitalter von Krisen und Transformationen reproduziert bzw. verbessert werden können – nicht nur für die Pioniere des ortsungebundenen Arbeitens, sondern für alle Erwerbstätigen.
18.9.2023