Interview: Sebastian Dullien über die makroökonomische Perspektive auf die Zeit nach der Pandemie
1) Die Pandemie führte zu ökonomischen Turbulenzen und zugleich verschoben sich in diesem Zeitraum wesentliche Parameter in Finanz-, Handel und Industriepolitik. Wie würdest Du die „postpandemische Konstellation“ aus makroökonomischer Perspektive beschreiben?
Nachdem wir seit den späten 1990er Jahren mehrere Jahrzehnte mit niedriger Inflation, fallenden oder niedrigen Zinsen und einer massiven Ausweitung des Welthandels erlebt haben, sehen wir nun plötzlich Inflationsraten wie zuletzt in den 1970er Jahren, steigende Zinsen und wachsende Handelshemmnisse. Hier wirken Spätfolgen der Pandemie zusammen mit den Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine und einer grundsätzlichen Verschiebung der geopolitischen Landschaft. Der Abbruch russischer Energielieferungen nach Europa hat einen massiven Preisschock ausgelöst, der auf eine Wirtschaft getroffen ist, in der ohnehin ein erhöhter Preisdruck aufgrund post-pandemisch gestörter Lieferketten herrschte. Die Kombination dieser Schocks hat uns aus der vorherigen makroökonomischen Konstellation herauskatapultiert in ein wesentlich unangenehmeres und schwierigeres Umfeld.
2) Welche Rolle spielen dabei konkret die geopolitischen Spannungen? Rechnest Du in diesem Kontext auch mit einer Deglobalisierung?
Die geopolitischen Spannungen haben sich in den vergangenen drei Jahren klar erhöht. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist hier nur die Spitze des Eisbergs. Tatsächlich hat sich die geopolitische Positionierung der USA – und damit auch die globale geopolitische Landschaft - spätestens seit der Amtszeit von US-Präsident Barack Obama und der Ernennung Xi Jinpings zum chinesischen Präsidenten verändert. Die US-Regierung sieht Handels- und Industriepolitik inzwischen nicht mehr nur als Instrumente zur Steigerung des wirtschaftlichen Wohlstandes, sondern als Möglichkeit, die eigene globale Vorherrschaft gegenüber China zu verteidigen. In diesem Kontext ist eine gewisse Deglobalisierung nicht nur zu erwarten, sondern bereits zu beobachten: Gemessen etwa am Anteil der Exporte an der Wirtschaftsleistung ist China etwa in den vergangenen zehn Jahren wieder deutlich geschlossener geworden, Handelshürden zwischen den großen Blöcken sind heute höher als unmittelbar vor der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/9.
3) Als Begriff ist Industriepolitik ja wieder salonfähig geworden - auch wenn man argumentieren könnte, dass hinter den politischen Bühnen immer eine Form von Industriepolitik stattgefunden hat. Du selbst hast ja hier eine prominente Position zusammen mit Isabella Weber rund um den Gaspreisdeckel und Inflation eingenommen. Könntest du einmal skizzieren, wofür du plädierst?
Man muss die Frage nach dem Umgang mit Energiepreisschocks analytisch von der Frage der Industriepolitik trennen, auch, wenn ein Abfedern von Energiepreisschock durchaus industriepolitische Dimensionen haben kann.
Bei den Energiepreisschocks muss man aus meiner Sicht zum einen verhindern, dass diese strukturelle Schäden an der Wirtschaft verursachen, zum anderen muss der Staat dafür sorgen, dass es bei den privaten Haushalten nicht durch die plötzlichen Mehrbelastungen zu sozialen Schieflagen kommt. Preisbremsen und Energiepreissubventionen wie bei der Gas- und Strompreisbremse können bei beiden Zielen ein wichtiges Instrument sein.
Die Frage der Industriepolitik in aktuellen Zeiten ist allerdings breiter: Hier geht es darum, über wirtschaftspolitische Eingriffe bestimmte Branchen zu stärken, etwa um globale Abhängigkeiten zu reduzieren oder Branchen mit großem Potenzial für künftiges Wirtschaftswachstum zu halten oder anzusiedeln. Das kann etwa der Fall sein bei Halbleitern oder Medikamenten. Ich halte es für wichtig, hier Kriterien aufzustellen, für welche Branchen eine industriepolitische Förderung sinnvoll ist und dann mit einem breiten Instrumentenmix dort Unternehmen gezielt zu fördern, um die strategischen Ziele der Wirtschaftspolitik zu erreichen. Dabei darf muss die Politik ordnungspolitische Scheuklappen ablegen und stärker darauf achten, was effektiv und zielführend ist.
4) Industriepolitik funktioniert ja eben global. Wie schätzt du die Dynamik zwischen verschiedenen Politiken ein? Zugespitzt kommt es hier zum Subventionswettlauf? Und wenn ja (warum) ist es uns das wert?
Die Industriepolitik eines Landes im Wettbewerb um Produktionsstandorte in bestimmten Branchen setzt immer auch andere Länder unter Druck. Deshalb ist die Gefahr eines Subventionswettlaufs real. Leider nur ist ein Stillhalten auch keine Antwort, weil dann der Verlust wichtiger Branchen, Technologien und künftigen Wohlstands droht. Wenn die USA und China massiv Industriepolitik betreiben, Europa sich aber vornehm zurückhält, steht möglicherweise die EU am Ende ohne Standorte in wichtigen Zukunftsbranchen da.
5) Was sind aus deinen Augen weitere politische Hebel auf der nationalen Ebene um die dringend nötige Transformation voranzutreiben? Und, um nochmal auf die Pandemie zurückzukommen, sind die Chancen hierfür besser als zuvor?
Neben der strategischen Autonomie und der Resilienz ist die Dekarbonisierung und damit die sozial-ökologische Transformation ein wichtiges Ziel, auf das die Wirtschaftspolitik ausgerichtet sein muss. Dafür braucht man auf nationaler Ebene neben entsprechend ausgerichteter Industriepolitik auch massive öffentliche und private Investitionen – in Erneuerbare Energien, Energienetze, aber auch moderne Verkehrsnetze etwa für ÖPNV und Züge. Hier ist die Politik gefragt, nicht nur Rahmenbedingungen zu schaffen, sondern auch öffentliche Mittel bereit zu stellen.
Das Interview führte Florian Butollo.
8.11.2023