Praxis Betriebsratsarbeit: Von der Pandemie in die postpandemische Konstellation
Für unser erfolgreiches deutsches Mitbestimmungsmodell (zur Leistungsfähigkeit der Mitbestimmung überblicksartig Hans-Böckler-Stiftung, 2021) ist Vertrauen zentral. Der Begriff findet sich zwar nur einmal, aber prominent im Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Gleich zu Beginn heißt es dort: „Arbeitgeber und Betriebsrat arbeiten unter Beachtung der geltenden Tarifverträge vertrauensvoll und im Zusammenwirken mit den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammen“ (§ 2 Abs.1 BetrVG). Fehlt das Vertrauen, leidet die effiziente Zusammenarbeit zum Wohl der Beschäftigten und des Unternehmens. Inwiefern wurde diese vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Covid-19-Pandemie auf die Probe gestellt? Wie funktioniert die Betriebsratsarbeit jetzt, in der postpandemischen Konstellation? Wie hat sich die Situation für die Beschäftigten verändert?
Herausforderungen während Covid-19
Die Betriebsräte standen während der Pandemie vor der Aufgabe, ihren notwendigen Austausch mit dem Arbeitgeber, innerhalb des Betriebsrats und mit der Belegschaft aufgrund der Kontaktvermeidung wesentlich neu zu organisieren. Das bedeutete vielfach Neuland für die Gremien. Digitale Anwendungen für einen Live-Austausch fanden zwar im Unternehmen Anwendung, waren aber im Gebrauch für den Betriebsrat eher die Ausnahme als die Regel und gesetzlich nicht für demokratische Beschlüsse legitimiert. Das lag an der mangelnden Sicherheit, die digitale Anwendungen bieten, um sicherzustellen, dass ausschließlich mandatierte Personen Teilnehmende der Sitzung sind. Dennoch musste umgehend gehandelt werden, da gerade zu Beginn der Pandemie die Funktionsfähigkeit des Betriebsrats für die Belegschaft aufrechterhalten werden musste, um ihre Auswirkungen aufzufangen. Es bestand die Notwendigkeit, wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch, schnell und pragmatisch umfassend auf digitale Anwendungen für die Zusammenarbeit zurückzugreifen, um die Gesundheit zu schützen. Das erfolgte zunächst lediglich auf Basis einer Erklärung des Bundesarbeitsministers (Heil 2020). Bei den neu eingerichteten virtuellen Betriebsratssitzungen musste besonders in dieser Anfangsphase darauf geachtet werden, dass die Gültigkeit von Beschlüssen nicht angezweifelt wurde. Die besondere Herausforderung für den Betriebsrat war, die bestehende Arbeitspraxis in Präsenz mit dem Arbeitgeber in eine funktionierende neue virtuelle Zusammenarbeit zu überführen, bis hin zu komplexen und sensiblen Interaktionen, die in Verhandlungssituationen erforderlich sind. Für diese virtuellen Verhandlungen waren neue, digital-orientierte Verhaltensregeln zu etablieren und die Verhandlungen neu zu strukturieren. Hierbei durfte das über einen langen Zeitraum aufgebaute Vertrauensverhältnis nicht erodieren. Die neue virtuelle Arbeitsweise war außerdem für viele Betriebsratsmitglieder anspruchsvoll, die bisher mit IT-Anwendungen ungeübt waren.
Veränderte Sitzungskultur
Letztlich wurde Mitte Juni 2021 eine dauerhafte gesetzliche Grundlage für die virtuelle Arbeitsweise im Betriebsverfassungsgesetz (§ 30 Abs. 2 BetrVG) geschaffen. Den Vorbehalten gegenüber einer virtuellen Arbeitsweise wurde im Gesetz dadurch Rechnung getragen, dass die Präsenzsitzung weiterhin der Regelfall ist. Nach der Pandemie ist aber dennoch keineswegs der Zustand vor der Pandemie eingetreten. Das lag einerseits daran, dass arbeitgeberseitig die großen Zeit- und vor allem Kosteneinsparpotenziale gesehen wurden. Diese zumindest offensichtlichen Vorteile war die Arbeitgeberseite nicht mehr bereit, aufzugeben. Andererseits schätzten viele Betriebsratsmitglieder bei der übergreifenden Gremienarbeit mit anderen Standorten im Gesamtbetriebsrat vor allem aus Zeitgründen die virtuelle Zusammenarbeit, um umfangreiche Dienstreisen zu vermeiden. Die Regeln für eine virtuelle Sitzungsform waren etabliert und diese Zusammenarbeit eingeübt. Dennoch werden von den Betriebsräten ebenfalls die Vorteile von Präsenzsitzungen gesehen und anerkannt, vor allem, wenn komplexe Sitzungsthemen anstehen. Deshalb wird heute vielfach eine hybride Form praktiziert: Entweder finden im Wechsel virtuelle Sitzungen und Präsenztreffen statt oder bei Sitzungen vor Ort sind mandatierte Personen virtuell zugeschaltet. Insofern lässt sich also sagen, dass sich gegenwärtig eine teils präsente und teils virtuelle Sitzungskultur entwickelt hat. Virtuelle Gremiensitzungen haben sich vor allem im Gesamtbetriebsrat auf einem hohen Niveau verfestigt.
Die Besonderheit des Betriebsrats ist seine ausgesprochen enge Anbindung an seine Basis, die Belegschaft, für die er zur Wahl stand. Dies kommt beispielsweise in der vierteljährlich verpflichtend durchzuführenden Betriebsversammlung zum Ausdruck (§ 43 Abs. 1 BetrVG), in der gegenüber der Belegschaft Rechenschaft abgelegt werden muss. Um diesen Basiskontakt aufrechtzuerhalten, wurden während der Pandemie digitale Betriebsversammlungen durchgeführt (von 12/2021 bis 03/2022, zuletzt bis 04/2023 ohne Verlängerung). Bei den White Collar-Beschäftigten (der Begriff steht hier als Synonym für die Personen, die einen persönlichen Betriebsrechnerzugang haben) fand die digitale Versammlungsform zwar großen Anklang. Die Regelung, die in § 129 BetrVG verankert war, ist dennoch wieder entfallen. Die Begründung liegt in der Vermutung, dass die Kontaktqualität des Betriebsrats zur Belegschaft über eine digitale Betriebsversammlung geringer ist. Deshalb ist hier die Durchführung wieder weitgehend auf Präsenzformate zurückgefallen.
Während der Pandemie erprobte der Betriebsrat, teils gemeinsam mit der Gewerkschaft, neue digitale Kommunikationswege, wenn ein Interessenskonflikt mit dem Arbeitgeber ausgetragen werden musste. Die bereits vor der Pandemie verwendeten Formate digitaler unternehmens- bzw. betriebsinterner Veröffentlichungen (eine oder mehrere Seiten mit Informationen) über entsprechende Mailverteiler wurden durch neue, niederschwellige Formate ergänzt. So kamen Videos –über die betriebsinternen IT-Ressourcen gepostet und abrufbar – sowie betriebsexterne soziale Netzwerke zum Einsatz. Besonders die Videos trafen in der Belegschaft auf positive Resonanz und erreichten unerwartet hohe Zugriffszahlen. Jedoch erforderte die Produktion eines effektvollen und informativen Videos teils ganz neue Kompetenzen. Durch den großen Erfolg in der Belegschaft werden die Videos wohl in der Kommunikation mit den Beschäftigten beibehalten. Weiterhin im Blick behält der Betriebsrat die Blue Collar-Beschäftigten (im Unterschied zu White Collar ohne persönlichen Betriebsrechnerzugang), weshalb in den Fertigungsbereichen weiterhin Printmedien eingesetzt werden (zu den geschilderten Praxiserfahrungen bisher siehe auch die neueste empirische Studie von Kötter, J. et al., 2023).
Mobile Arbeit im Pandemieverlauf bis heute
Zu Beginn und in der Pandemie sahen sich Beschäftigte im Fertigungsbereich zuvorderst einer Unsicherheit ausgesetzt, währen Beschäftigte in der mobilen Arbeit vor allem mit Entgrenzung konfrontiert waren. Die Entgrenzung entstand, weil Führungskräfte, Regelungen und die technische Ausstattung nicht auf dieses Ausmaß des digitalen Arbeitens eingestellt waren. Vielfach wurde unter einem hohen Anpassungsdruck mobiles Arbeiten in Vereinbarungen übergreifend oder örtlich neu geregelt. Schwierig war dabei, dass die Arbeitsstättenverordnung zum Gesundheitsschutz bei der Arbeit zu Hause (vgl. § 2 Abs. 7 ArbStättV) als gesetzliche Rahmenbedingung für mobile Arbeit nicht anwendbar ist. Den fehlenden gesetzlichen Rahmen nutzten die Unternehmen dafür, die bestehenden Homeoffice-Regelungen zugunsten von Vereinbarungen zu mobiler Arbeit abzulösen, um diese neue Arbeitsform möglichst finanziell günstig im großen Umfang einzuführen. Zu der bisher vom Unternehmen zu stellenden ergonomischen Ausstattung konnte folglich nur wenig verhandelt werden. Vor der Pandemie war mobiles Arbeiten noch relativ wenig verbreitet, heute ist es weitgehend die Regel. An der Arbeitsrealität hat sich indes wenig geändert: Mobiles Arbeiten findet nach wie vor vorwiegend im Homeoffice statt.
Die jüngste Entwicklung hatte zwei Treiber. Eine Anforderungsdimension: Der Betriebsrat und das Unternehmen mussten und wollten die digitale Zusammenarbeit in der Pandemie geregelt umsetzen. Ferner eine Einforderungsdimension der Beschäftigten: Zum schon länger bestehenden Flexibilitätsaspekt, der Work-Life-Balance, kam der Gesundheitsaspekt, das Minimieren des Ansteckungsrisikos.
Thematisiert wurde während der Pandemie, dass Blue Collar-Beschäftigte weitgehend keine Möglichkeit hatten, mobil zu arbeiten. Diese gerechtigkeitsgetriebene Diskussion ist gegenwärtig völlig verschwunden. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die umfassenden Zeiten des mobilen Arbeitens vom Unternehmen revidiert wurden und die Sichtbarkeit der White Collar-Beschäftigten wieder gegeben ist. Nicht verborgen geblieben ist aber auch, dass die Arbeitsintensität für den White Collar-Bereich durch die neue digitale Zusammenarbeit wahrnehmbar angestiegen ist und wohl einen neuen Peak erreicht hat. Digitales Arbeiten macht einen dichteren Tagesablauf möglich und anfängliche Führungsunsicherheiten der Vorgesetzten, die Freiräume ermöglichten, sind Vergangenheit. Als starker Indikator für diese Entwicklung können die nachgewiesen gesundheitlich bedenklich einzustufenden Sitzzeiten gelten, die in den letzten sieben Jahren durchschnittlich um mehr als 1,5 Stunden pro Werktag kontinuierlich angestiegen sind. Das gilt vor allem für die mobile Arbeit, die offensichtlich real wenig mobil ist: „Die tägliche Sitzdauer ist bei Befragten, die im Homeoffice oder sowohl von zu Hause als auch im Büro arbeiten, höher als bei Befragten, die nicht im Homeoffice tätig sind (691 bzw. 658 Minuten gegenüber 546 Minuten)“ (DKV-Report 2023, S. 27 ff.). An dieser Situation werden sicherlich neue Trends wie Laufbänder, die während eines virtuellen Meetings genutzt werden können, wenig ändern.
Die Anpassung der Unternehmen an die neue Arbeitsrealität des mobilen Arbeitens ist nach der Pandemie schnell erfolgt und hat sich auf einem relativ stabilen Niveau eingependelt. Ein Niveau, das sich mit dem Einsatz von Desksharing verstetigen dürfte, bei dem die Beschäftigten im Büro keinen persönlichen Arbeitsplatz mehr haben und die Unternehmensplanungen darauf abstellen, dass immer nur ein bestimmter Prozentsatz an Personen im Unternehmen anzutreffen ist. Die Covid-19-Pandemie kann also zurecht als Veränderungsbeschleuniger gelten, der uns in eine neue Arbeitsrealität geführt hat. Sollen jedoch Folgeschäden für die Beschäftigten und die Gesellschaft vermieden werden, brauchen wir möglichst umgehend ein Update des gesetzlichen Rahmens für mobile Arbeit.
Quellen:
- DKV-Report, 2023, Deutsche Sporthochschule Köln, https://www.ergo.com/de/Newsroom/Reports-Studien/DKV-Report, 16.09.2023
- Kötter, J./Schaffarczik, S./Daus, J.-T. et al., 2023, Interessenvertretungen unter Remote-Bedingungen, Mitbestimmungspraxis Nr. 55, Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung, https://www.imu-boeckler.de/fpdf/HBS-008704/p_mbf_praxis_2023_55.pdf, 16.10.2023
- Hans-Böckler-Stiftung, 2021, Mitbestimmung – das demokratische Gestaltungsprinzip der sozialen Marktwirtschaft, Studien zur Wirkung von betrieblicher und Unternehmensmitbestimmung, https://www.imu-boeckler.de/data/Hans-Boeckler-Stiftung_Mitbestimmung_Gestaltungsprinzip-der-.pdf, 16.09.2023
- Heil, Hubertus, 2020, Ministererklärung, Sicherung der Arbeitsfähigkeit der Betriebsräte mit Blick auf Covid-19, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Meldungen/2020/ministererklaerung-arbeit-der-betriebsraete-unterstuetzen.html, 16.09.2023
1.11.2023