Die Zuspitzung von Entgrenzung und Flexibilität im Corona-Homeoffice und die langfristigen Herausforderungen für die Betriebsratsarbeit
Mobiles Arbeit und Homeoffice sind alles andere als neue Themen; und auch die damit verbundene vielschichtige Entgrenzung beschäftigt die Arbeitsforschung seit Langem (u.a. Voß 1998; Kleemann 2005; Vogl/Kratzer 2015). Die Anforderungen an den Umgang mit Erreichbarkeitserwartungen und ein gesundes Grenzmanagement, die Tendenz zur Mehrarbeit, Überlastung und Selbstausbeutung, aber auch die hohe Zufriedenheit angesichts Zeitautonomie, eingesparter Pendelzeiten und Möglichkeiten der besseren Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit mit Sorgeaufgaben sind seit vielen Jahren bekannt. Zugleich war ortsflexible Arbeit aber bis zur Corona-Pandemie zumindest in mitbestimmten Unternehmen häufig klar reguliert, insbesondere mit Blick auf Rahmenarbeitszeiten, die mindestens in Vereinbarungen – wenn nicht gar über technische Lösungen wie Einschränkungen des Serverzugriff – das Arbeiten außerhalb der vereinbarten Zeiten erschwerten. Zudem hielt sich der Umfang des Arbeitens im Homeoffice in Grenzen, so dass Probleme wie die Gestaltung gemeinsamer Präsenzzeiten oder reduzierte Büroflächen erst in Ansätzen diskutiert wurden.
Entgrenzte Flexibilität
Während der Covid19-Pandemie hat sich nicht nur die Anzahl derjenigen, die im Homeoffice arbeiten durften bzw. mussten, sprunghaft erhöht, auch die – positiven wie negativen – Erfahrungen mit Entgrenzung haben sich intensiviert. In Betriebsfallstudien, die wir im Rahmen des von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierten Projekts „Orts- und zeitflexibles Arbeiten in der betrieblichen Praxis“ (Leitung Prof. Dr. Ingo Matuschek, Hochschule der Bundesagentur für Arbeit) während der Pandemie durchgeführt haben, wurde dies unmittelbar deutlich (Carstensen et al. 2022; Krause/Matuschek 2023): Zwar wurde durchaus positiv bemerkt, wie gut das digitale Arbeiten auf Distanz insgesamt funktionierte, dass Vorbehalte bei den Vorgesetzten abgebaut wurden und sich die Zeitersparnisse durch den Wegfall von Pendelzeiten in der Tagesgestaltung durchaus bemerkbar machten. Zugleich wurde aber deutlich, dass sich die bekannten Anforderungen an Flexibilität verstärkten: Die Zeiten, zu denen gearbeitet wurde, wurden ausgeweitet, insbesondere bei Eltern, die so versuchten, den Sorgeanforderungen gerecht zu werden. Erwerbsarbeitszeiten wurden zum Teil in die Nacht verlagert; vor allem Frauen versuchten, durch die Verlagerung der Arbeitszeit in den frühen Morgen oder den späten Abend den mindestens doppelten Anforderungen gerecht zu werden und Erwerbsarbeits- und Sorgearbeitszeiten irgendwie zu vereinbaren, mit den bekannten hohen Belastungen und Gefahren für Geschlechterungleichheiten. Betriebsräte stimmten den dafür erforderlichen Vereinbarungen meist notgedrungen zu und erklärten sich mit einer solchen Ausweitung der Arbeitszeiten einverstanden. Weit entfernt waren die Arbeitsbedingungen im spontan eingerichteten Homeoffice auch von den Anforderungen der Arbeitsstättenverordnung, gearbeitet wurde in Schlafzimmern, Küchen und auf Bügelbrettern als Schreibtischen. Abgrenzungen zwischen Erwerbsarbeit und Familie wurden hinfällig, wenn Kinder bei Videokonferenzen ins Bild liefen.
Neben diesen Entgrenzungen von Zeit und Ort waren innerbetrieblich aber auch Entgrenzungen auf der Beziehungsebene zu beobachten: Die Herstellung von Kollegialität war während der Pandemie und ist bis heute überall dort, wo noch immer viel im Homeoffice gearbeitet wird, mit hohen Anforderungen an Flexibilität konfrontiert. Mit dem Wegbrechen von körperlicher Kopräsenz, zufälligen Begegnungen und den Möglichkeiten, kurz etwas auf dem Flur oder im Vorbeigehen zu klären, entstand ein immenser Mehraufwand an Strategien, mit dem die Vorteile gleichzeitiger Präsenz am Arbeitsplatz zu kompensieren versucht wurden. Betriebliche Strukturen, die den reibungslosen Ablauf von Arbeitsprozessen sowie den Zusammenhalt von Teams gewährleistet hatten, mussten nun durch neue, zumeist digitale Arbeitspraktiken aufrechterhalten werden; dies erforderte nicht zuletzt mehr aktive Eigenleistung. Eingeübte Praktiken der gegenseitigen Anerkennung, des Feedbacks, Austauschs, der Vergemeinschaftung und zwischenmenschlicher Beziehungen im Arbeitsprozess waren somit grundlegend herausgefordert. Etabliert wurden Praktiken wie Ersatztreffen in Form digitaler Kaffeepausen, stundenlang laufenden Videokonferenzen für den Bürosmalltalk oder auch analoge Spaziergänge. Dadurch zugespitzt wurde die Intensität des Arbeitens mit digitalen Technologien; Kontakte und Kommunikation waren fast nur noch technisch vermittelt, zudem nahm der Umfang digitaler Geräte in den Privathaushalten deutlich zu, angeschafft wurden zweite Bildschirme, Headsets, Ringlichter etc.
Ingo Matuschek, Christoph Krause, Frank Kleemann, Sandra Mierich und ich sprechen daher im Anschluss an unsere empirischen Ergebnisse aus den Betriebsfallstudien von „entgrenzter Flexibilität“ (Carstensen et al. 2022), um die Steigerung der Flexibilitätsanforderungen – um nicht zu sagen -zwänge – sowie den gestiegenen Umfang und die neue Intensität dieser Prozesse zu beschreiben. Gezeigt hat sich während der Pandemie eine gravierende Zuspitzung von Entwicklungen, die zwar vor der Pandemie zu beobachten waren, die sich nun aber immens ausgeweitet haben und dies in einem umfassenden Sinn, d.h. nicht nur räumlich und zeitlich, sondern auch hinsichtlich Koordinationsaufgaben, Dimensionen wie Emotions-/Gefühlarbeit und Motivation.
Veränderte Herausforderungen für Betriebsräte
Naheliegenderweise war die Betriebsratsarbeit von diesen Veränderungen ebenfalls massiv betroffen. Deuteten sich in Unternehmen mit Homeoffice-Möglichkeit bereits vor der Pandemie „dunkle Flure“ an, die die Betriebsratsarbeit erschwerten, kam es nun zu einer weitreichenden Neuaushandlung von Arbeitsbedingungen und -regelungen sowie der Rahmenbedingungen der Betriebsratsarbeit selbst.
Zunächst wurde der Kontakt zur verteilt arbeitenden Belegschaft erschwert; Betriebsräte saßen auf einmal selbst im Homeoffice und wurden damit relativ unsichtbar. Zudem begrenzte sich ihr Handlungsfeld im Wesentlichen auf schnelles Reagieren auf akute Problemlagen und die Unterstützung der Beschäftigten im Homeoffice. In vielen Fällen fanden sie sich in Situationen wieder, in denen sie Ausnahmeregelungen zustimmen mussten, z.B. den bereits genannten Ausweitungen des Arbeitszeitrahmens im Homeoffice. Vielleicht noch stärker als die Beschäftigten waren Betriebsräte gefordert, den Kontakt zur Belegschaft aktiv (wieder)herzustellen; manche berichteten, dass sie erst mit der Zeit merkten, dass sie gar nichts mehr von den Beschäftigten gehört hatten und dann anfingen, aktiv einzelne Beschäftigte anzurufen, um nachzufragen, wie es ihnen geht, oder digitale Wege entwickelten wie Videoformate. Formale Wege des Kontakts und der Zusammenarbeit auf digitale Kommunikation umzustellen, fiel dabei leichter (digitale Betriebsratssitzungen und Betriebsversammlungen); die informelle Kommunikation war demgegenüber schwieriger im Digitalen herzustellen und drohte zur Einzelfallberatung zu werden. Somit wurde es schwieriger, Problemlagen der Belegschaft breiter zu erfassen, gerade Fragen nach Ungleichheiten und Belastungen rutschten dabei häufig in die Unsichtbarkeit.
Und in Zukunft? Betriebsräte zwischen Homeoffice und neuer Präsenz
Mittlerweile sind viele Beschäftigte längst aus dem Homeoffice ins Büro zurückgekehrt, manche wurden mit Vehemenz von ihren Vorgesetzten oder dem Vorstand ins Büro zurückbeordert.[1] Regelmäßig erscheinen in den Medien Berichte darüber, dass Unternehmen wieder mehr Präsenz fordern, im August 2023 war dies beispielsweise ausgerechnet von Zoom zu lesen. Das wichtigste Argument, von den Beschäftigten zu fordern, dass sie mindestens zwei oder drei Tage wieder ins Büro kommen sollen, ist dabei in der Regel die – angeblich – höhere Produktivität.[2]
Zugleich sind viele Beschäftigte nach wie vor deutlich mehr im Homeoffice. Immernoch arbeitet ungefähr ein Viertel aller Beschäftigten zumindest gelegentlich im Homeoffice, das ist ungefähr doppelt so viel wie vor der Pandemie (Statistisches Bundesamt 2023). Hierdurch hat sich auch der Charakter von Präsenz in vielen Unternehmen verändert (Carstensen 2023).
Vor der Pandemie war der Wunsch der Beschäftigten nach Homeoffice größer als die Möglichkeiten; deutlich wurden daran die Bedürfnisse der Beschäftigten nach flexiblen Arbeitsformen und Gestaltungsspielräumen. Während der Pandemie war das Arbeiten von Zuhause mehr Anforderung und Zwang als Ausdruck von Bedürfnissen. Aber wie geht es nun langfristig weiter mit dem Arbeiten im Homeoffice und den Folgen für Präsenzarbeit? Bisher sind noch viele Fragen offen.
Zunächst stellt sich unmittelbar die Frage, ob der hohe Anteil an Homeoffice-Arbeit Ausdruck dessen ist, dass das Arbeiten im Homeoffice seit der Pandemie wirklich gut funktioniert, Arbeitszufriedenheit und Produktivität hoch sind und die Zusammenarbeit remote und digital auch gut funktioniert. Die Situation könnte ebenfalls Ausdruck einer Unfähigkeit der Organisationen bzw. ihrer Führungskräfte sein, ihre Beschäftigten ins Büro zurückzuholen; es könnte sein, dass der Druck und die Durchsetzungskraft der Beschäftigten gestiegen sind, sich ihren Arbeitsort auszusuchen oder aber einfach Ausdruck einer Laissez-faire-Haltung, den momentanen Zustand nicht aktiv zu gestalten. Für Betriebsräte stellt sich somit die Frage, welche Position sie hier einnehmen möchten, um in dieser Gemengelage – sofern ihre Ursachen überhaupt analysierbar sind – gestaltend zu agieren.
Daneben stellen sich viele weitere Fragen: Für Arbeits- und Gesundheitsschutz schien es kurz eine gestiegene Aufmerksamkeit zu geben, da im permanenten Homeoffice Rückenschmerzen durch schlechtes Sitzen zu einem öffentlichen Thema wurden. Dieses Thema für die Gestaltung von Homeoffice-Arbeit auf die Agenda zu setzen, scheint dringend geboten. Zum Thema machen sollten Betriebsräte auch die offensichtlichen geschlechterpolitischen Ansatzpunkte, die ortsflexibles Arbeiten bietet. Die Risiken einer Verstärkung von Geschlechterungleichheiten, aber auch die Potenziale für neue Arbeitsteilungen und eine Neuverhandlung von Care-Aufgaben in Familien sollten nicht nur im Privaten ausgehandelt werden; auch betrieblicherseits kann und sollte dies gestaltet werden. Hinsichtlich der entgrenzten Arbeitszeiten ist zu prüfen, inwiefern diese nach den Lockdowns wieder eingehegt wurden – zu hoffen ist hier, dass sich die größten Probleme mit der Öffnung von Kitas und Schulen wieder gelegt haben. Die gestiegene Aufmerksamkeit für Sorgearbeit könnte von Betriebsräten dennoch auch langfristig offensiv aufgegriffen werden, wenn es um die Gestaltung der Arbeit der Zukunft geht. Der Corona-bedingte Digitalisierungsschub hat die Arbeitsbedingungen verändert; auch gibt es für Betriebsräte Handlungsnotwendigkeiten, um die digitale Überfrachtung des Privatraums und die damit verbundenen Belastungspotenziale zu bearbeiten. Ungelöst in vielen Unternehmen ist zudem nach wie vor die Gefahr der Spaltung in diejenigen, die im Homeoffice arbeiten können, und diejenigen, deren Tätigkeit dies nicht zulässt. Vor allem aber wird die Aufgabe sein, bei schrumpfenden Zeiten gemeinsamer Ko-Präsenz Kollegialität zu gestalten. Die Themen haben also eher zugenommen, bieten aber immerhin auch ein Gelegenheitsfenster, Arbeit neu und offensiv zu gestalten, anstatt Problemlagen in der Unsichtbarkeit des Homeoffice zu verlieren.
Literatur
- Carstensen, Tanja (2023): Zwischen Homeoffice, neuer Präsenz und Care. Die räumliche und digitale Neuordnung von Arbeit, in: WSI-Mitteilungen 76 (1), Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, S. 3-9.
- Carstensen, Tanja; Krause, Christoph; Matuschek, Ingo; Kleemann, Frank; Mierich, Sandra (2022): Entgrenzte Flexibilität im Homeoffice: Neuordnungen der alltäglichen Arbeitspraxis, der Geschlechterarrangements und der Betriebsratsarbeit in der Corona-Krise. In: Arbeit 31 (1-2), herausgegeben von Peukert, Almut; Seeliger, Martin; Jacobsen, Heike, De Gruyter, Berlin, S. 195-213.
- Kleemann, Frank (2005): Die Wirklichkeit der Teleheimarbeit. Eine arbeitssoziologische Untersuchung. Edition Sigma, Berlin.
- Krause, Christoph; Matuschek, Ingo (2023): Die Praxis orts- und zeitflexiblen Arbeitens. Study der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, https://www.imu-boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008689.
- Vogl, Gerlinde; Kratzer, Nick (2015): zuhause – unterwegs – beim Kunden: wenn die Arbeit viele Orte hat. In: Kratzer, Nick; Menz, Wolfgang; Pangert, Barbara (Hg.): Work-Life-Balance – eine Frage der Leistungspolitik. Analysen und Gestaltungsansätze, Springer VS, Wiesbaden, S. 171-119.
- Voß, Günter G (1998): Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 31 (3), Nürnberg, S. 473-487.
- Statistisches Bundesamt (2023): Knapp ein Viertel aller Erwerbstätigen arbeitete 2022 im Homeoffice, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2023/PD23_28_p002.html (13.10.2023)