Bildung in Kenia und Tansania
Können Tansania und Kenia als Entwicklungsmodell für den globalen Süden dienen? Günther Schmid analysiert die Bildungssysteme beider Länder und betrachtet Indikatoren für den Bildungserfolg wie Bildungsgleichheit und -qualität. Welche Vorstellung von Bildung stecken hinter den beiden Systemen, welche Aufbruchstimmung gab unter Politikern wie Julius K. Nyerere, dem früheren Präsidenten von Tansania? In den 1990ern wurden mit dem Bericht der sogenannten Südkommission Bildungsvorstellungen für Afrika formuliert, die heute noch nachwirken.
Das Jahr 1990 markiert die erste Selbstgewissheit des Globalen Südens. Zuvor hatte sich der „Norden“ um die angebliche Unterentwicklung des „Südens“ gekümmert, etwa im Rahmen der von Willy Brandt oder der norwegischen Politikerin Gro Harlem Brundtland moderierten Kommissionen von 1980 und 1987. Nun meldete sich die von dem früheren Präsidenten Tansanias Julius K. Nyerere geleitete Südkommission – ganz ohne „nordische“ Beteiligung – selbstbewusst zu Wort: „Die Herausforderung des Südens“ brach mit der schon lange gefühlten Gängelung durch „nordische“ Entwicklungskonzepte. Lange Zeit galt z. B. das 1968 erschienene dreibändige Werk des schwedischen Nobelpreisträgers Gunnar Myrdal, „Asian Drama“ als Blaupause für Entwicklungsländer; allerdings nur im „Norden“. Der „Süden“ schaute damals schon eher in Richtung Sowjetunion oder China und geißelte „Wie Europa Afrika unterentwickelte“.
Erstaunlich am Bericht der Südkommission ist nicht nur die klare Vision, die sie in nahezu kantscher Diktion formulierte: „Entwicklung ist ein Prozess, der es Menschen ermöglicht, ihr Potenzial auszuschöpfen, Selbstvertrauen aufzubauen und ein Leben in Würde und Erfüllung zu führen“, sondern auch die Betonung der Bildung als Ausgangspunkt für die Befreiung aus der wirtschaftlichen „Unmündigkeit“ durch den Norden. Es heißt dort: „Daher muss sich die künftige Entwicklungspolitik stärker mit der Schließung der Wissenslücke zum Norden befassen. Wissen ist für die Zukunft des Südens von entscheidender Bedeutung, denn die Entwicklung wird immer mehr von den Vorteilen abhängen, die sich aus den Fortschritten von Wissenschaft und Technologie ergeben. Fortschritte in diesem Bereich erfordern eine Überarbeitung der Bildungssysteme, damit der naturwissenschaftlichen Bildung und der Ausbildung in Ingenieurs- und Technikkompetenzen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden kann.“
Die deutsche wie europäische Entwicklungspolitik wird der damals formulierten Bedeutung von Bildung für die Entwicklung der aufstrebenden Staaten in Afrika nicht gerecht. Das gilt auch für Kenia und Tansania, deren Schulsysteme in diesem Beitrag im Fokus stehen sollen. Können sie im Sinne von Nyerere als Vorbilder für den globalen Süden dienen? Welche Bildungsideale früherer Politiker und Präsidenten prägten die beiden afrikanischen Länder, und welche Auswirkungen haben diese Ideale noch heute?
Heute gehen zwar praktisch alle Kinder auch in Afrika wenigstens zeitweise zur Schule, aber die mittlere Schulbesuchsdauer der über 25-jährigen Bevölkerung in Kenia beträgt nur 6,3 Jahre und in Tansania 5,8 Jahre, also nur knapp halb so lang im Vergleich zu den 13,2 Jahren in Deutschland. Noch problematischer werden die Unterschiede, wenn wir die Abschlussraten der Grundschule betrachten. In Deutschland schließen alle Kinder – wenigstens formell – die Grundschule ab und die Geschlechterdifferenz spielt keine Rolle mehr. In Kenia und Tansania sind selbst auf diesem Niveau noch erhebliche Unterschiede zu erkennen: In Kenia beenden nur 71 Prozent der Mädchen die Grundschule, in Tansania immerhin 83 Prozent.
Gewiss sind Bemessung und Bewertung von Bildung heute weit differenzierter. Im Rahmen der 17 nachhaltigen Entwicklungsziele verwenden die Vereinten Nationen für das Ziel 4 „Bildung, Wissenschaft und Kultur“ 43 Indikatoren, die sich mit Recht stärker auf die Ergebnisse (outcome) und weniger auf die Beteiligung als solche konzentrieren. Allerdings strömt diese Betrachtungsweise trotz ihres prätentiösen Vokabulars nicht mehr den emphatischen Geist der Südkommission von 1990 aus. Wer sich den letzten Bildungsbericht der UNESCO vornimmt, wird schnell an den Spruch erinnert, „vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu erkennen“.
Übersichtlicher sind die alle 54 afrikanischen Staaten umfassenden Analysen der Mo Ibrahim Foundation. In ihrem Governance-Index-Bericht 2023 wird auch die Entwicklung der Bildungssysteme mithilfe von fünf Indikatoren überwacht: Bildungsgleichheit; Bildungsbeteiligung; Bildungsabschluss; Bildungsressourcen; Bildungsqualität. Wie leistungsfähig sind die beiden Länder gemessen an diesen Indikatoren? Entsprechen ihre Bildungssysteme den Erfordernissen des wirtschaftlichen Wettbewerbs?
Beide Bildungssysteme erweisen sich als nahezu gleichwertig, jedoch mit interessanten Unterschieden. Von 100 möglichen Punkten der fünf Bildungsindikatoren erreicht Tansania 56,8 Punkte und liegt somit auf Rang 17 aller 54 afrikanischen Staaten. Darüber hinaus scheint Tansania in der Dynamik seiner Bildung gegenüber Kenia aufzuholen (7,1 vs. 1,9 Punkte im Vergleich zum Vorjahrzehnt). Das kenianische Bildungssystem ist mit Rang 11 und nach wie vor leicht positiver Dynamik gegenüber anderen afrikanischen Staaten weit fortgeschritten. Die schlechtesten Werte erhalten beide Länder, insbesondere Tansania, bei der Bildungsbeteiligung. In Tansania kann das vor allem auf den starken Ausleseprozess in den Bildungsübergängen nach oben zurückführen. Dieser Ausleseprozess ist vermutlich ein Relikt der zögerlichen Politik Nyereres, das sekundäre und tertiäre Bildungssystem auszubauen. Lange Zeit beharrte der damalige Präsident auf der Meinung, die „Volksschule“ sei für die große Mehrheit einer überwiegend agrarischen Bevölkerung vollkommen ausreichend.
Den (in der Rangordnung) besten Wert erhält Kenia in der Einschätzung der Bildungsinstitutionen und Bildungspolitik. Bei aller Vorsicht – wegen des lang zurückliegenden Zeitraums – liegt die Vermutung nahe, dass die Betonung des ehemaligen Entwicklungsministers Tom Mboya auf Exzellenz und Wettbewerbsfähigkeit nach amerikanischem Vorbild sich noch heute in der Bildungsqualität auszahlt. Ein Großteil der kenianischen Bildungselite studierte mithilfe des Airlift Africa 1960 in den USA, den Mboya maßgeblich mit John F. Kennedy ausgehandelt hatte. Im Zuge des Airlifts konnten zwischen 1959 and 1963 fast 800 junge afrikanische Männer und Frauen an US-amerikanischen und kanadischen Universitäten studieren. Dazu gehörten die kenianische Nobelpreisträgerin Wangari Maathai sowie der Vater von Barack Obama.
Tansania sticht dagegen bei der Bildungsgleichheit hervor: Das Land nimmt bei diesem Indikator Rang 7 unter 54 afrikanischen Staaten ein. Hier dürfen wir mit guten Gründen das Urteil fällen, dass Julius Nyerere, der Mwalimu (Lehrer) genannt wurde, zugunsten der Bildungsgleichheit für Mädchen oder Frauen ein nachhaltiges positives Erbe hinterlassen hat. Die derzeitige Präsidentin von Tansania, Samia Suluhu Hassan, ist eine der wenigen Frauen an der Spitze einer afrikanischen Regierung. In Kenia sehen wir zwar auf regionaler Ebene vereinzelt Frauen an der Spitze der Regierung (z. B. Governor Gladys Wanga in Homa Bay County), im Parlament sind sie mit 22 Prozent noch stark unterrepräsentiert; den Frauen in Tansania wird durch Zuwahl 40 Prozent Anteil garantiert.
Inwieweit taugen die beiden Länder als Entwicklungsmodelle für den globalen Süden? In Nyereres Reden zur Bildung spielte ein Aspekt eine große Rolle, der – nicht nur in Afrika – in Vergessenheit geraten ist, nämlich die scharfe Ablehnung jeder rein auf den späteren Nutzen für die Wirtschaft ausgelegten Vorstellung von Bildung. Diese Vorstellung, die sich hinter dem Begriff „Humankapital“ verbirgt, kann nicht das Rezept für eine nachhaltige Entwicklungsdynamik liefern. Vor allem die Vorstellung von Bildung als einer Institution, die exklusive Eigentumsrechte schafft (z. B. Löhne oder Gehälter am formal erreichten Bildungsstatus festzumachen), widerspricht dem entwicklungspolitischen Ziel einer gleichermaßen prosperierenden wie gerechten Gesellschaft. Für Nyerere sollte Bildung immer ein kooperatives Bemühen sein und nicht nur dem individuellen Vorteil dienen. Weitergabe von Wissen war für ihn Voraussetzung für nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung.
Wie aktuell diese Auffassung in der modernen Bildungsökonomie und Bildungssoziologie ist, bestätigen beispielsweise Joseph Stiglitz und Bruce Greenwald: Ihre lehrbuchartige Studie argumentiert überzeugend, dass Innovation – und damit wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt – auf Kooperation und Weitergabe des Wissens basiert. Die ökonomische Fachwissenschaft spricht hier von „Überlauf“ (spillover) oder von positiven externen Effekten. Da diese Effekte vor allem im industriellen Bereich stark sind, ist es sinnvoll, solche Bereiche im Anfangsstadium vor ruinöser Konkurrenz zu schützen und erst nach und nach dem Freihandel zu überlassen – eine Strategie, die den meisten afrikanischen Ländern bisher verwehrt wurde. Dagegen wird sich eine wissensbasierte Technologie, vor allem im IT-Bereich, nur durch internationale Kooperation beschleunigen lassen.
Kenia ist auch in Bereichen moderner Technologien und sozialer Infrastrukturen weiter vorangeschritten als Tansania. Das lässt sich an einigen Schlüsselindikatoren nachweisen. Im Gegensatz zu Tansania, das sich – neben dem Tourismus – nach wie vor stark auf Ausbeutung seiner Mineralien konzentriert und so der Gefahr des Ressourcenfluchs ausgesetzt ist, hat sich Kenia schon 2008 das Ziel gesetzt, bis 2030 eine führende afrikanische Industrienation zu werden. Führend ist es u. a. im IT-Bereich, etwa bei bargeldloser Bezahlung, bei Ansätzen zum mobilen Breitband und bei cleveren digitalen Start-ups. Das Land ist auch Erfolgsmodell auf dem Weg zu dem 100-Prozent-Stromzugang. Netzunabhängige Solarlösungen bieten eine kostengünstige Möglichkeit, den zahlreichen netzfernen Haushalten den Zugang zu Strom zu ermöglichen. Mit durchschnittlich sieben Prozent jährlichem Zuwachs gehört Kenia zu den drei Ländern weltweit, die in den letzten Jahren bei der Elektrifizierung die schnellsten Fortschritte erzielt haben. Im Bereich Geothermie und Erzeugung von grünem Wasserstoff ist das Land afrikanischer Spitzenreiter und deckt den Strombedarf schon heute mit bis zu 90 Prozent erneuerbarer Energie. All diese Fakten waren offenbar Anlass für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in diesem Bereich eine Entwicklungspartnerschaft aufzubauen.
Schließlich führte Kenia in Verbindung mit den Bildungsreformen schon früh eine konsequente Familienplanung ein. Damit hat das Land – im Gegensatz zu Tansania – bessere Voraussetzungen geschaffen, die demografische Dividende zu nutzen: Höhere Bildung führt zu niedrigeren Geburtenraten, niedrigere Geburtenraten begünstigen höhere Bildung. Zwischen 1989 und 2014 stieg das Durchschnittsalter kenianischer Frauen bei ihrer ersten Eheschließung um weitere zwei Jahre, ebenso das mittlere Alter bei ihrer ersten Geburt. Heute werden in Kenia durchschnittlich „nur“ 3,4 Kinder je Frau geboren; in Tansania sind es noch fast fünf (4,77).
Bildungs- und Familienpolitik in Kenia profitierten enorm von der Globalen Bildungspartnerschaft (GPE), in der Regierungen von über 60 Entwicklungsländern und mehr als 20 Geberländern, internationale Organisationen, die Zivilgesellschaft, Lehrkräfte und der Privatsektor zusammenarbeiten. Tansania hat sich erst seit ein paar Jahren dazu entschlossen, sich aktiv in diese Partnerschaft einzubringen. Die offizielle deutsche Entwicklungspolitik ist sich des Potenzials dieser Partnerschaft noch nicht recht bewusst, betrachtet man den verhältnismäßig bescheidenen finanziellen Beitrag. Manche Jugendliche in Deutschland, wie ein Appell der deutschen Jugendbotschafterinnen an die GPE im April 2022 zeigt, scheinen hier weiter zu sein: „Wir […] sind der Meinung, dass Deutschland […] eine außergewöhnliche Verantwortung trägt, der globalen Bildungskrise entgegenzuwirken. Wenn Deutschland stark in globale Bildung investiert, kann sich die transformative Kraft von Bildung für Mädchen und Jungen in Ländern des globalen Südens entfalten und sich dabei äußerst positiv auf eine Vielzahl von Lebensbereichen auswirken.“
Diese nach wie vor aktuelle Einsicht könnte Anlass sein, einen Paradigmenwechsel der Entwicklungspolitik einzuleiten, statt den populistischen Forderungen nach Kürzungen nachzugeben. Trotz ihrer unterschiedlichen Entwicklungspfade bieten Kenia wie Tansania lehrreiche Erfahrungen für eine solche Neuausrichtung. Für den globalen Süden dienen sie jedoch nur bedingt als Vorbild. Nachholbedarf haben beide Länder, vor allem bei der Bildung von Mädchen und jungen Frauen.
Literatur
Schmid, Günther: Mehr Bildung für die Entwicklung in Afrika. Erfahrungen einer Stiftung für Kinder in Ostafrika und Vorschläge zu einer Neuorientierung der Entwicklungspolitik. 2. Auflage. Berlin 2020. Online: www.editionpamoja.de (Stand 06.06.2024).
Schmid, Günther: Bildung in Afrika. Wie leistungsfähig sind die Bildungssysteme in Kenia und Tansania? Historischer Rückblick und aktueller Vergleich. 2024. Online: https://www.childdevelopmentfund.com/anderemedien.html (Stand 06.06.2024).
6.6.24
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Bildunterschrift: Tansanias Präsidentin Samia Suluhu Hassan auf einer Pressekonferenz in Daressalam, Tansania, am 30. März 2023.