Freiheit, Existenzangst, Traditionen
Wie Gesellschaftssysteme in verschiedenen Ländern funktionieren und angenommen werden, hängt nicht zuletzt von der jeweiligen politischen Kultur ab. Die wiederum lässt sich nicht einfach aus der Weltregion ableiten, in der ein bestimmtes Land liegt. Vielmehr ergibt sich ein buntes Bild, das die Autorinnen auf einer Karte der Mentalitäten einzutragen versuchen.
Der Begriff „Globaler Süden“ bezieht sich im weitesten Sinne auf die Regionen Lateinamerika, Asien (ohne Japan und Südkorea), Afrika und Ozeanien (ohne Australien und Neuseeland). Er hat die Rede von der „Dritten Welt“ weitgehend ersetzt und tritt zunehmend an die Stelle von Wendungen wie „weniger entwickelte Länder“ und „Entwicklungsländer“. Nach Angaben des Finanzzentrums der Vereinten Nationen für Süd-Süd-Kooperation von 2022 umfasst der Globale Süden 78 Länder, die als „Gruppe der 77 und China“ bezeichnet werden. Der Globale Norden hingegen umfasst nach Angaben der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) im Wesentlichen Nordamerika, Europa, Israel, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland – 57 Länder, in denen etwa 25 Prozent der Weltbevölkerung leben, die aber 80 Prozent des weltweiten Reichtums besitzen und dazu neigen, den Globalen Süden politisch wie wirtschaftlich zu dominieren.
Expert*innen des Interkulturellen definieren Kultur als „ein Muster aus Werten, Überzeugungen, Einstellungen und Normen, das eine Gruppe von Menschen von einer anderen unterscheidet, sei es ein Land, eine Region oder eine andere Gruppe“ (so schreiben es Anneli Kaasa und Michael Minkov). Diese verschiedenen Aspekte können in kulturelle Dimensionen eingeteilt werden, die Koordinaten dafür bieten, Länder auf einer kulturellen Landkarte zu verorten. Unsere Karte basiert auf der genannten Studie, für die Anneli Kaasa und Michael Minkov 25 Fragen aus dem World Values Survey (WVS) – der umfassendsten internationalen Umfrage über menschliche Werte – analysierten, die so viele verschiedene Aspekte von Kultur wie möglich abdecken. Sie erarbeiteten dafür zwei kulturelle Dimensionen.
Eine ist das Spektrum zwischen Freiheit und Sorge. Dieses Gegensatzpaar entspricht dem, was Michael Minkov mit der Spannung zwischen Individualismus und Kollektivismus beschrieben hat: Er unterschied damit Gesellschaften, die individuelle Freiheiten, Emanzipation und Autonomie betonen und schätzen, von Gesellschaften, die Konfliktvermeidung und die Einschränkung persönlicher Freiheiten im Interesse der sozialen Harmonie befürworten. Auf der einen Seite dieses Spektrums gibt es Gesellschaften, in denen der Schwerpunkt auf der Freiheit liegt: Redefreiheit, Freiheit der Selbstdarstellung, Freiheit zu entscheiden, wie man sein Leben lebt, akzeptiert zu werden, wie man ist, und auch die Freizeit zu genießen. Auf der anderen Seite liegen die Gesellschaften, in denen die Sorge das Denken der Menschen beherrscht: die Sorge um das Überleben und die Begrenzung der Ressourcen, die Furcht vor dem, was fremd oder anders ist. All diese Sorgen können dazu führen, dass man ausgegrenzte Gruppen ablehnt.
Die zweite kulturelle Dimension kann mit dem Gegensatzpaar „Verantwortung vs. Glaube“ beschrieben werden. Hier werden Länder, in denen die Menschen Verantwortung und Unabhängigkeit schätzen, unterschieden von solchen, die durch den Glauben an Traditionen und Autoritäten geprägt sind – sei es Gott oder der Staat – und den Glauben an die Fähigkeit der Autoritäten, Probleme für die Bürger*innen zu lösen, wenn man ihnen nur gehorcht. Diese Dimension ähnelt dem, was Donald F. Inglehart mit dem Gegensatz von traditionell und säkular-rational beschrieben hat. Michael Minkov sprach 2018 von „Flexibilität versus Monumentalismus“: Hier stehen Selbstkontrolle und Selbstoptimierung auf der einen Seite, der Stolz auf sich selbst und die eigene Nation auf der anderen.
Die politische Kultur kann als Teil der nationalen Kultur betrachtet werden: Sie umfasst Werte, Überzeugungen oder Einstellungen, die eng mit dem politischen System eines Landes verbunden sind. Christian Welzel hat es so formuliert: „Politische Kultur ist die psychologische Dimension politischer Systeme, einschließlich aller politisch relevanten Überzeugungen, Werte und Einstellungen.“ Es kann davon ausgegangen werden, dass die Mentalität der Menschen, die Orientierungen, Überzeugungen und Werte, die in einer Bevölkerung vorherrschen, mit der Art des politischen Systems zusammenhängen, in dem eine Bevölkerung lebt – das politische System ist eng mit der politischen Kultur verbunden. Wenn die Bürger*innen beispielsweise um die Aufrechterhaltung des Status quo oder gar um ihr Überleben fürchten, haben sie möglicherweise das Gefühl, dass eine starke autokratische Regierung sie vor noch unbekannten Bedrohungen schützen wird. Außerdem ist es ihnen vielleicht nicht so wichtig, ihre Meinung zu äußern und an der Entscheidungsfindung beteiligt zu werden. Dies ist genau das, was die erste der genannten kulturellen Dimensionen, Freiheit vs. Sorge, ausdrückt.
Unsere kulturelle Landkarte zeigt, dass alle Länder des Globalen Südens nahe beim Pol der Sorge ums Überleben liegen. Die Länder des Globalen Nordens, die keine Erben des ehemaligen sozialistischen Sowjetblocks sind, liegen beim anderen Pol, „Freiheit“. Daher ist es wenig überraschend, dass die Demokratie im Globalen Norden vorherrscht, im Globalen Süden jedoch nicht. Dieser kulturelle Unterschied steht in engem Zusammenhang mit dem Wohlstand der Länder: In ärmeren Ländern dominieren Werte, die mit dem Überleben zu tun haben; erst wenn die elementaren Bedürfnisse befriedigt sind, können Menschen über Freiheit und Selbstentfaltung nachdenken. Die Länder, die von einem sozialistischen Regime regiert wurden, liegen aus demselben Grund auch eher beim Pol „Sorge“.
Betrachtet man die Dimension „Verantwortung vs. Glaube/Tradition“, so ist die Trennung zwischen dem Globalen Süden und dem Norden weit weniger eindeutig. Im Globalen Norden gibt es Länder mit eher traditionellen Kulturen (Irland, Malta, Türkei, Zypern), und die Länder des Globalen Südens verteilen sich entlang dieser Dimension von einem Pol zum anderen. Während beispielsweise drei Regionen des Globalen Südens – Taiwan, Hongkong und Macau – beim Pol „Verantwortung“ liegen, befinden sich Ghana, Trinidad und Tobago, Bangladesch, Nicaragua, Ecuador, Kolumbien, Puerto Rico, Libyen und Jordanien beim Pol „Glaube/Tradition“, dicht gefolgt von den übrigen Ländern des Globalen Südens. Die Karte zeigt allerdings, dass die meisten Länder des Globalen Südens bei diesem Pol liegen. Dies hat wichtige Auswirkungen auf die Art der politischen Regime.
Wenn die Mentalität in Gesellschaften des Globalen Südens stark von Traditionen und Glauben sowie von der Sorge um das Überleben bei begrenzten Ressourcen geprägt ist, dann sind die Bürger*innen weniger an Freiheit und Selbstverwirklichung interessiert. Sie sind eher nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen und sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen. Sie könnten die Demokratisierung als unnötige Ablenkung oder sogar als Bedrohung für die bestehende Ordnung und Stabilität betrachten. Daher stellt sich die Frage, ob Demokratie für alle Gesellschaften als wünschenswert oder potenziell gut funktionierend gelten kann.
Sowohl im Globalen Norden als auch im Globalen Süden gibt es Demokratien. Allerdings sind alle demokratischen Länder im Globalen Süden auf der Grundlage des Demokratie-Index 2023 lückenhafte Demokratien, während die Mehrheit der demokratischen Länder im Globalen Norden vollständige Demokratien sind. Dies passt zu dem, was oben über nationale Kulturen gesagt wurde. Die Mentalität der Menschen, ihr Wunsch nach Demokratie und ihre Bereitschaft zur Beteiligung an demokratischen Prozessen sind für die Entstehung, das Wachstum und den Fortbestand einer Demokratie von entscheidender Bedeutung. Die nationale Kultur kann mit dem fruchtbaren Boden verglichen werden, den ein Samenkorn braucht, um zu keimen und zur Pflanze zu wachsen.
Wir glauben, dass die Betrachtung der nationalen Kultur in mehrfacher Hinsicht nützlich ist. Erstens kann sie helfen zu verstehen, warum sich die Demokratie in weiten Teilen des Globalen Südens nicht durchsetzt (oder noch nicht durchgesetzt hat). Zweitens kann diese Perspektive dazu beitragen, ideologische und politische Voreingenommenheit abzubauen: In Ländern des Globalen Nordens gibt es oft Vorurteile über nicht-demokratische Länder im Globalen Süden, und manchmal herrscht werden schlecht funktionierende Demokratien im Globalen Süden (wie etwa Indien, den Philippinen, Namibia oder Argentinien) begünstigt. Drittens können wir so erkennen, dass jeder Versuch, Demokratie in ein Land zu verpflanzen, in dem der fruchtbare Boden, also die entsprechende politische Kultur, fehlt, vergeblich sein wird. Afghanistan ist ein hervorragendes Beispiel: Nach 20 Jahren, in denen die USA und andere Länder des Globalen Nordens versuchten, das Land mit großen finanziellen und anderen Investitionen zu demokratisieren, brach die vom Westen unterstützte afghanische Regierung im August 2022 spektakulär zusammen, und die Taliban übernahmen die Regierung ohne große Widerstände.
Für die akademische Forschung sind aus diesen Überlegungen mehrere Schlüsse zu ziehen. Jede Analyse muss sowohl im Blick auf Theorie und Hypothesen als auch in der Methodik in den Kontext der lokalen kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen gestellt werden. Der im Globalen Norden vorherrschende theoretische Ansatz zur Entwicklung von Hypothesen und die methodischen Ansätze zu deren Überprüfung sind nicht immer auf die Gegebenheiten im Globalen Süden anwendbar. Um die Forschung im Globalen Süden zu kontextualisieren, sollten Forschende einige Grundsätze beherzigen:
Erstens ist es nützlich, sich ein breiteres Wissen über die Forschungsstandorte anzueignen, nicht nur über die gegenwärtigen kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen, sondern auch über die Geschichte der Länder. Zweitens ist es notwendig, quantitative und qualitative Ansätze zu integrieren (vgl. ausführlicher in einem Artikel mit Jaya Dantas, früher Earnest, von 2015). Diese Forderung ist nicht neu, und es gibt immer mehr Forschung mit gemischten Methoden zum Beispiel in der Gesundheitsforschung. Insgesamt ist aber sozialwissenschaftliche Forschung mit gemischten Methoden immer noch spärlich. Wie wir anhand von Forschungen in Nord-Uganda und im ländlichen China dargelegt haben, werden Forschende, die sich ausschließlich auf quantitative Analysen stützen, durch Ergebnisse, die oft im Widerspruch zu Theorien und Hypothesen stehen, verwirrt und verunsichert. Drittens: Forschende aus dem Norden müssen offen sein und bereit, lokales Wissen und Fachkenntnisse zu übernehmen, die dem vorherrschenden Paradigma der sozialwissenschaftlichen Forschung im Globalen Norden widersprechen oder es in Frage stellen können. Das Forschungsparadigma im Globalen Norden ist nicht nur losgelöst von den kulturellen Besonderheiten des Globalen Südens, es kann auch bewusst oder unbewusst durch das Erbe des Kolonialismus beeinflusst und voreingenommen sein. Vor Kurzem haben Wissenschaftler*innen aus dem Bereich der öffentlichen Gesundheit und der Medizin in der Zeitschrift „Lancet“ untersucht, wie Wissen aus dem Globalen Süden diskreditiert oder sogar gestohlen wurde und wie lokale Expert*innen von der Wissensvermittlung ausgeschlossen werden. Diese Untersuchung könnte ein Weckruf für die sozialwissenschaftliche Forschung über den und im Globalen Süden sein. Schließlich gibt es angesichts der kulturellen Vielfalt im Globalen Süden nicht das eine Patentrezept für zielführende Forschung.
Literatur
Inglehart, Ronald /Welzel, Christian: „Cultural Map 2020“. In: World Values Survey. 2021. Archiviert online. (Stand 08.07.2024).
Minkov, Michael: „A Revision of Hofstede’s Model of National Culture: Old Evidence and New Data from 56 Countries“. In: Cross Cultural & Strategic Management, 2018, Jg. 25, H. 2, S. 231-256. DOI: 10.1108/CCSM-03-2017-0033.
Kaasa, Anneli/Minkov, Michael: „Are Different Two-Dimensional Models of Culture Just a Matter of Different Rotations? Evidence From the Analysis Based on the WVS/EVS“. In: Journal of Cross-Cultural Psychology, 2022, Jg. 53, H. 2, S. 127-156. DOI: 10.1177/00220221211072790.
Khan, Mishal S/Naidu, Thirusha/Torres, Irene/et al.: „The Lancet and Colonialism: Past, Present, and Future“. In: The Lancet, 2024, Jg. 403: S. 1304–1308. DOI: 10.1016/S0140-6736(24)00102-8.
Li, Jianghong/Earnest, Jaya: „Das Beste aus zwei Welten: Vorteile einer Kombination von quantativen und qualitativen Forschungsmethoden“. In: WZB-Mitteilungen, 2015, H. 150. Online: https://bibliothek.wzb.eu/artikel/2015/f-19460.pdf (Stand 08.07.2024).
8.7.2024
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Bildunterschrift: Traditionelle Tempel inmitten von Hochhäusern in China.