Lehren aus Skandinavien
Rechtsextreme Ideen gewinnen vielerorts ebenso Zustimmung wie rechtsextreme Parteien. Politische Kräfte der Mitte stehen vor der Herausforderung, ihre Politik so zu gestalten, dass sie diesem Trend Einhalt gebieten. Unsere Gastwissenschaftlerin Sanna Salo hat Entwicklungen in Finnland und Schweden studiert und leitet daraus Empfehlungen für die Situation in Deutschland ab.
Es gibt eine Fülle von wissenschaftlicher Literatur zu der Frage, wie die etablierten Parteien der Herausforderung von rechts begegnen können: allgemeine Beobachtungen oder Studien zu Mitte-links-Parteien und zu Mitte-rechts-Parteien. Doch es gibt kein Patentrezept, das den Aufstieg der extremen Rechten aufhalten könnte. Die Parteien rechts außen unterscheiden sich beispielsweise im Grad des Extremismus und in den politischen Kontexten und Kulturen, in denen sie angesiedelt sind.
Mit diesem Artikel will ich in die deutsche Debatte einige hoffentlich nützliche Beobachtungen aus dem nordischen Land Schweden einbringen. Sowohl in Deutschland als auch in Schweden gibt es inzwischen eine rechtsradikale Partei, die in den Umfragen auf nationaler Ebene 20 bis 25 Prozent erreicht: die Alternative für Deutschland (AfD) bzw. die Schwedendemokraten (SD). In Schweden ist der Aufstieg der SD etwas früher erfolgt als in Deutschland, wo die AfD erst in den letzten Jahren deutlich zugelegt hat. Derzeit liegt sie in Umfragen auf Bundesebene bei 18 Prozent, in einigen östlichen Bundesländern bei fast 30 Prozent oder sogar mehr. Damit könnte sie den etablierten Parteien in Deutschland bald das Leben sehr schwer machen. Die Parteien der Mitte müssen jetzt strategische Entscheidungen treffen, wie sie auf die AfD reagieren wollen. Die Partei zu ignorieren, mag vor ein paar Jahren noch eine Option gewesen sein – jetzt ist das keine vertretbare Strategie mehr.
Was also ist zu tun? Zunächst muss geklärt werden, ob man sich mit der herausfordernden Partei einlässt. Die Mitte muss entscheiden, ob sie den Neuling als eine Partei unter anderen akzeptiert. Im Falle Schwedens zum Beispiel zogen die Schwedendemokraten bei den Parlamentswahlen 2010 mit 5,7 Prozent der Stimmen ins Parlament ein. Die Partei war bereits einige Jahre zuvor in einer Weise gewachsen, die den politischen Mainstream beunruhigte, aber die Strategie der Parteien der Mitte war die Ausgrenzung. Nicht nur waren politische Verhandlungen und eine Zusammenarbeit mit den SD ausgeschlossen – die etablierten Parteien sprachen über sie nicht einmal als politische Kraft, sondern vielmehr als eine illiberale Bedrohung, deren Zugang zum Parteiensystem von vornherein verhindert werden sollte. Mit den Worten des Sozialdemokraten Stefan Löfven, der von 2014 bis 2021 Ministerpräsident in Schweden war, hofften die etablierten Parteien, die Schwedendemokraten würden ein „unerfreuliches Zwischenspiel“ bleiben.
Was eine solche Strategie des Abstandhaltens auf längere Sicht gefährlich machte, war, dass mit ihr auch die Themen vernachlässigt wurden, die die SD stark machten. Das heißt: Solange es vor allem darum ging, die Schwedendemokraten als Partei zu bekämpfen und ihnen den Zugang zur politischen Arena zu verweigern, wurden die Probleme etwa in den Bereichen Einwanderung und Integration übersehen. Die schwedischen Mainstream-Parteien deuteten „das Problem“ lange Zeit als individuell falsche Einstellungen, als Fremdenfeindlichkeit aus Unkenntnis, insbesondere unter Arbeitern. Wie sich inzwischen herausgestellt hat, war diese Analyse zumindest teilweise falsch, und in den Vorstädten Stockholms, Göteborgs und Malmös – Gemeinden mit hoher Migrantendichte – wurde die Lage immer schwieriger. Die wichtigste Lehre daraus für den deutschen Fall ist: Ignorieren Sie die AfD, wenn Sie das für strategisch klug halten, aber ignorieren Sie nicht die Wähler oder ihre Sorgen. Wer die Probleme ignoriert, lässt den extremen Rechten freie Hand, die Debatte zu gestalten.
Wenn sie sich entschieden haben, politisch zu reagieren, stehen den etablierten Parteien drei strategische Möglichkeiten zur Verfügung: Ablehnen, Entgegenkommen oder Entschärfen. Das größte Potenzial sehe ich im „Entschärfen“, also im Versuch, die politische Agenda so umzugestalten, dass die extreme Rechte benachteiligt und die Mitte begünstigt wird. Wir wissen, dass Wähler*innen vor allem aufgrund von einwanderungsfeindlichen Haltungen für die extreme Rechte stimmen, insbesondere wenn die Bedeutung der Einwanderung im Parteiensystem hoch ist. Eine wirksame Entschärfungsstrategie bestünde also darin, die Bedeutung von Einwanderung zu verringern und Themen nach vorne zu stellen, die von der Mitte besetzt sind – wie etwa die Wirtschaft. Darüber hinaus wäre es sinnvoll, diese Themen nicht kulturell, sondern politisch zu framen, die Debatte also auf eine Links-rechts-Achse zu verlagern, wo die Parteien der linken und rechten Mitte normalerweise stark sind. Die einzige Möglichkeit, dem Wahlerfolg der Rechtsextremen entgegenzuwirken, scheint doch darin zu bestehen, konkrete, aber fortschrittliche Lösungen und Visionen für die Zukunft zu entwickeln.
Der Wahlerfolg der Schwedendemokraten im Jahr 2014 machte deutlich, dass die Partei nicht wieder verschwinden würde. Sie erreichte 12,9 Prozent, was dazu führte, dass die etablierten Parteien gemeinsam einen „Cordon sanitaire“ um die Partei errichteten. Diese Reaktion war eine Kombination aus Isolation im parlamentarischen Leben und Entschärfung der Debatte durch das Eintreten für Alternativen zu dem, was die SD in öffentlichen Debatten zu drängenden gesellschaftlichen Problemen anboten. In unserer Untersuchung haben wir diese Strategien bei den schwedischen Sozialdemokraten und beim Gewerkschaftsbund beobachtet. Die Strategie der Entschärfung führte vor allem zu Aufklärungskampagnen: Der Gewerkschaftsbund veröffentlichte zum Beispiel eine Broschüre, in der er den ethno-nationalistischen Kurs der Schwedendemokraten kritisierte und im Gegensatz dazu den Klassenkonflikt wieder als wichtigste gesellschaftliche Spaltungslinie benannte. Diese Reaktion zeigt, wie Sozialdemokraten und Gewerkschaftsbund das Problem verstanden: als ein Problem individueller Einstellungen, nicht als Versagen der Politik.
Die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015/16 spielte Ansätzen der Entschärfung nicht in die Hände. Denn der starke Anstieg der Asylbewerberzahlen bewirkte, dass Einwanderung, Integration und Fragen von Recht und Ordnung, allesamt bevorzugte Politikbereiche der SD, ganz oben auf der politischen Agenda standen. Die etablierten Parteien mussten also mit den Schwedendemokraten auf einem Terrain konkurrieren, auf dem diese stark waren. Darüber hinaus war die Öffentlichkeit bei diesem Thema zunehmend polarisiert. Zuvor hatte Einwanderung in Schweden jahrzehntelang nur eine geringe Bedeutung, und es war für die etablierten linken und rechten Parteien ein Leichtes, einen stillschweigenden Konsens über geregelte Arbeitsmigration und eine liberale Asylpolitik aufrechtzuerhalten. Die Politisierung des Themas und die Wahrnehmung, dass der Anteil skeptischer Wähler*innen wächst, brachten die etablierten Parteien dazu, den SD eher entgegenzukommen. Nach und nach veränderten die Parteien der Mitte ihre einwanderungspolitischen Positionen in eine restriktivere Richtung. Vor allem die damals amtierenden Sozialdemokraten führten einen Paradigmenwechsel in der schwedischen Migrationspolitik herbei: Die Regierung Löfven führte 2015/16 drastische Reformen ein, um den Zustrom von Asylbewerbern zu begrenzen. Von diesem Zeitpunkt an wurde deutlich, dass eine Normalisierung der zuvor nur von den Schwedendemokraten vertretenen Ansichten im Gange war: Die etablierten Parteien im ganzen ideologischen Spektrum nahmen konservativere Positionen zu den von den SD bevorzugt vertretenen Themen ein.
Formal hielt die Isolierung der Schwedendemokraten im politischen und parlamentarischen Leben bis zur Wahl 2022 an, aber in der Praxis entwickelte sich ein Prozess der Normalisierung. Vor allem seit den Wahlen von 2018 wurden sie nach und nach zu einem Teil des schwedischen Parteiensystems. Mehrere Studien haben auf die zentrale Rolle hingewiesen, die die rechte Mitte für diese Normalisierung spielte. Die konservative Mitte-rechts-Partei Die Moderaten (M) spielte eine Schlüsselrolle dabei, dass die Brandmauer gegen die SD durchbrochen wurde. Das Ergebnis der Wahl 2018 war ein Gleichstand zwischen dem linken und dem rechten Parteiblock, die in den vergangenen Jahrzehnten abwechselnd Mehrheitsregierungen gebildet hatten. Nun konnte keiner der beiden Blöcke eine Mehrheit bilden, und die Unterstützung der Schwedendemokraten, die als eine Art dritter Block außerhalb der parlamentarischen Zusammenarbeit isoliert worden waren, galt als tabu. Nach langen Verhandlungen sprangen zwei kleine bürgerliche Parteien aus ihrem Lager ab und erklärten sich bereit, eine Mitte-links-Minderheitsregierung (Sozialdemokraten und Grüne) zu unterstützen. Eine solche blockübergreifende Zusammenarbeit war in Schweden äußerst selten; sie diente einzig dazu, die SD von der Macht fernzuhalten. Doch die ideologisch ungleiche Koalition brach noch vor den Parlamentswahlen 2022 auseinander, als die bürgerliche Zentrumspartei und die Liberalen der Regierung ihre Unterstützung entzogen. Als die Schwedendemokraten bei den Wahlen 2022 weiter wuchsen und mit 20,5 Prozent vor den Moderaten (19,1 Prozent) als stärkste Rechtspartei abschlossen, war für diese die Schlussfolgerung klar: entweder weitere vier Jahre in der Opposition akzeptieren oder einen Weg finden, mit der Unterstützung der SD zu regieren. Die Moderaten bildeten daraufhin eine Minderheitsregierung mit den Christdemokraten und den Liberalen, die auf der Unterstützung der Schwedendemokraten basiert, der die SD aber formal nicht angehören. Die SD haben also keine Ministerposten, aber das Regierungsabkommen trägt deutlich ihre Spuren – zum Beispiel bei der starken Betonung von Reformen in der Migrationspolitik und von Fragen der öffentlichen Ordnung.
Oft ist die Rede vom Spezialfall Deutschland aufgrund seiner Geschichte. Und sicherlich liegen viele Dinge in Deutschland anders als in Schweden, etwa was die Größe, die föderale Organisation und die politische Kultur angeht. Doch die Ähnlichkeiten zwischen den Überlegungen, die die deutschen Politiker und Parteien der Mitte derzeit beschäftigen, und den schwedischen Erfahrungen sind frappierend.
Im deutschen Fall ist das Dilemma der Koalitionsbildung besonders akut, da die AfD bei einigen Landtagswahlen im Osten in diesem Herbst rund 30 Prozent der Stimmen erhalten dürfte. Die CDU sitzt in der Zwickmühle: Ein Zusammengehen mit der Linkspartei scheint ebenso unmöglich wie mit der extremen Rechten. Auf dieses Dilemma gibt es keine einfachen Antworten. Eins zeigt aber die wissenschaftliche Forschung ebenso wie Erfahrungen aus anderen Ländern: Es ist unwahrscheinlich, dass es funktioniert, die Positionen und Frames der Rechtsextremen zu imitieren – ebenso wenig wie das Ignorieren der rechtsextremen Partei oder insbesondere ihrer Themen. Der beste Weg dürfte sein, sich mit den Problemen zu befassen, positive, aber konkrete Lösungen anzubieten; die neue Partei also nicht zu dämonisieren, sondern ihr mit praktischer Politik entgegenzutreten.
Literatur
Heinze, Anna-Sophie/Salo, Sanna: „The Transformation of the Mainstream Right and its Impact on (Social) Democracy in Germany“. In: Rovira Kaltwasser, Cristobal (Hg.): Shifting Alliances: The Radicalisation of the Mainstream Right in Europe, and its Implication for Social Democrats. Berlin: Friedrich Ebert Stiftung, im Erscheinen, 2024.
Salo, Sanna/Rydgren, Jens: The Battle Over Working-Class Voters: How Social Democracy has Responded to the Populist Radical Right in the Nordic Countries. London: Routlege 2021.
08.04.2024
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