Ungleichgewicht der Macht
Forschende aus unterschiedlichen Teilen der Erde haben immer noch sehr ungleiche Startchancen. Das gilt für die Finanzierung ihrer Forschung, akademische Karrierewege, für Visa und Netzwerke. Nora Chirikure und Lennard Naumann fragen, was es braucht, damit Süd-Nord-Forschungspartnerschaften wirklich gleichberechtigt sind und Forschung aus dem Globalen Süden Erfolg hat.
Der Begriff „Globaler Süden“ wird im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs immer präsenter. Aber wofür steht er genau? Wie kann er uns helfen, Ungleichheiten innerhalb der Wissenschaft zu verstehen oder gar zu überwinden? Wir haben Forschende zu dem Thema interviewt und festgestellt, dass der Globale Süden trotz eines Anstiegs an Forschungskooperationen im internationalen akademischen Diskurs immer noch stark unterrepräsentiert ist. In diesem Artikel diskutieren wir den Gebrauch des Begriffs „Globaler Süden“ für das Verständnis von Ungleichheit. Wir identifizieren eine Reihe von Problemen, namentlich Extraversion, ein enges Verständnis wissenschaftlicher Exzellenz und den begrenzten Zugang zu Forschungsgeldern, die einer gerechteren Zusammenarbeit im Weg stehen. Und wir schlagen Lösungen vor, um einige dieser Ungleichheiten zu beseitigen.
Mit der Auflösung der Sowjetunion in den 1990er-Jahren wurden die Begriffe „Globaler Norden“ und „Globaler Süden“ zunehmend zur Beschreibung der sich verändernden internationalen Machtdynamiken verwendet, wobei der Globale Süden sich grob auf die zuvor als „Dritte Welt“ bekannten Länder bezog. Das wirtschaftliche Wachstum und der zunehmende politische Einfluss einiger Länder dieses Globalen Südens in den letzten zwei Jahrzehnten, wie beispielsweise China, Brasilien und Südafrika, legten dann den Grundstein einer gemeinsamen Identität dieser Gruppe von Staaten. In ihrem Mittelpunkt steht der Kampf gegen globale Ungleichheiten und der Fokus auf die anhaltenden Folgen des Kolonialismus. Damit einher ging auch eine verstärkte Zusammenarbeit in internationalen Foren wie der „Group of 77“ bei den Vereinten Nationen und des „Non-Aligned Movements“. An deren Gipfel in Kampala im Januar 2024 nahmen mehr als 120 Länder teil, die sich nicht formell mit oder gegen einen der großen Machtblöcke verbinden.
Der Globale Süden ist mehr als eine geografische Kategorie. Er beschreibt ein komplexes Zusammenspiel wirtschaftlicher, politischer und historischer Problemstellungen. Die Länder des Globalen Südens bilden eine sehr heterogene Gruppe, weshalb der Begriff stets diskutiert und weiterentwickelt wird. Der Fakt, dass eine so große Gruppe von Ländern mit solch ähnlichen Problemstellungen konfrontiert ist, rechtfertigt nichtsdestotrotz eine, wenn auch lose Kategorisierung. In diesem Artikel folgen wir einer Minimaldefinition für den Globalen Süden aus dem „Forging a Global South“-Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen von 2004 (United Nations Development Programme). Er umfasst die meisten Länder Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und der Karibik. Den Begriff „Globaler Norden“ beziehen wir lose auf die Gruppe der Industrieländer in Europa und Nordamerika.
Das Machtgefälle zwischen Globalem Süden und Globalem Norden schlägt sich auch in der Wissenschaft nieder. So zeigen Forschende der New York University in einer Analyse von 1.000.000 Artikeln von 2001 bis 2020, dass 35 Prozent dieser Artikel im Globalen Süden verfasst wurden, aber nur 19 Prozent der Redakteur*innen dort ansässig waren. György Csomós stellt in einer aktuellen Studie von 2024 zudem fest, dass mehr als 75 Prozent der Chefredakteur*innen der 11.915 wichtigsten wirtschaftswissenschaftlichen Journals in Europa oder Nordamerika sitzen. Auch wenn diese Form der Ungleichheitsforschung immer noch selten ist, so zeigen schon diese ersten Ergebnisse ein systemisches Ungleichgewicht, bei dem „exzellente“ Wissenschaft überwiegend im Globalen Norden verortet wird. Dieser Ausschluss großer Teile der akademischen Gemeinschaft kann nicht zu einer optimalen Produktion von Wissen führen, insbesondere in den Sozialwissenschaften, wo Kontextwissen oft von großer Bedeutung ist. Doch wie kommen diese starken Ungleichheiten zustande?
Extraversion und geringe Wertschätzung Forschender des Globalen Südens
Das von dem beninischen Philosophen Paulin Hountoundji beschriebene Phänomen der „Extraversion“ kann möglicherweise schon einen großen Teil des Ungleichgewichts erklären. Bereits 1999 beobachtete er, dass „europäische und amerikanische Wissenschaftler nach Zaire oder in die Sahara gehen, nicht auf der Suche nach Wissen, sondern nur nach Materialien, die zu Wissen führen“. Hartnäckig hält sich die Überzeugung, dass Forschende des Globalen Nordens über eine größere wissenschaftliche Autorität und Kenntnis verfügen. Das ist ein systematisches Vorurteil gegenüber Forschung aus dem Global Süden, das eine wissenschaftliche Gleichberechtigung untergräbt. Selbst in kooperativen Projekten haben Forschende aus dem Norden oft das letzte Wort über die Agendasetzung, Theorie, Methodik und Interpretation der Ergebnisse, während Forschende aus dem Süden auf eine symbolische Rolle reduziert werden.
Jacqueline Braveboy-Wagner, Politikwissenschaftlerin und emeritierte Professorin am City College of New York, hebt im Interview hervor, dass die Teilnahme von Wissenschaftler*innen aus dem Süden an Konferenzen oder Partnerschaften mit Kolleg*innen aus dem Norden in erster Linie Letzteren zugutekommen, obwohl die Forschenden aus dem Süden wertvolle Informationen, Ideen und Netzwerke beisteuern. In diesem Zusammenhang nennt die Forschungsmanagerin Geetika Khanduja die Gefahr des „Tokenism“, bei der die Einbeziehung von Forschenden aus dem Süden zwar als Bestandteil eines Forschungsprojekts „abgehakt“ werden muss, nie jedoch mit einer echten, gleichberechtigten Einbeziehung einhergeht. Das von dem Philosophen Hountondji beschriebene Modell der blinden Daten-Extraktion hat zwar „in letzter Zeit einen Trend hin zu gleichberechtigteren Süd-Nord-Partnerschaften erfahren“, wie Margarita Gómez deutlich macht. Es ist aber weiterhin eine Herausforderung, Forschenden aus dem Globalen Süden während des gesamten Forschungsprozesses – von der Festlegung der Forschungsfrage bis zur Kommunikation der Ergebnisse – echte Selbstbestimmung und Gleichberechtigung zu gewährleisten.
Begrenzter Zugang zu Forschungsgeldern
Forschende aus dem Globalen Norden haben zudem systematisch bessere Chancen, Forschungsmittel einzuwerben, sowohl für Projekte im Globalen Süden als auch im Globalen Norden. So stellt der Forscher Enrique Mendizabal in einer Analyse der Fördermittel des African Education Research Funding Consortium fest, dass afrikanische Organisationen zwar etwa die Hälfte der Zuschüsse erhielten, diese aber im Vergleich zu ihren Pendants im Globalen Norden deutlich geringer ausfielen. Die nordamerikanischen Mittelbewilligungen für die Bildungsforschung in Afrika waren im Durchschnitt 4,5-mal so hoch wie die afrikanischen, und etwa die Hälfte der Bewerbungsverfahren nordamerikanischer Mittel waren geschlossen. Diese Praxis begünstigt Personen mit bestehenden Verbindungen und verschafft ihnen so einen Vorteil. Darüber hinaus erhält Forschung im Globalen Süden oft nur projektbezogene, kurzfristige Finanzierungen, wodurch die für die Stärkung der institutionellen Kapazitäten erforderlichen administrativen Kosten nicht gedeckt werden.
Enges Verständnis akademischer Exzellenz
In der internationalen Forschungsgemeinschaft besteht zudem ein sehr enges, unflexibles Verständnis von „exzellenter Forschung“, das stark von dem, im Globalen Norden entstandenen Wissenschaftsverständnis geprägt ist. So stellte der Forscher Grieve Chelwa 2021 bei der Untersuchung wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsartikel mit Afrika-Bezug fest, dass nur ca. 25 Prozent der Artikel von 2005 bis 2015 mindestens eine*n Autor*in aus Afrika aufwiesen. Von den untersuchten Fachzeitschriften waren nur 3 Prozent der Redakteur*innen tatsächlich in Afrika. Von Forschenden aus Peru oder Kenia werden heutzutage Forschungsaufenthalte in Europa oder Nordamerika erwartet, selbst wenn im Herkunftsland angesehene wissenschaftliche Einrichtungen existieren. Zudem ist die Einwerbung von Forschungsgeldern aus dem Norden für eine Karriere in der internationalen Wissenschaft unerlässlich. All das wäre kein Problem, denn der Erfolg guter Wissenschaft stützt sich nicht zuletzt auf den Austausch von Ideen und Weltanschauungen. Jedoch untergräbt die Einseitigkeit dieses Austauschs die Wertschätzung regionalen Wissens und verzerrt den Wettbewerb zu Ungunsten von Forschenden außerhalb Europas und Nordamerikas.
Die Verzerrungen in der Repräsentanz südlicher Forschung, in der Einwerbung von Forschungsgeldern und im Verständnis wissenschaftlicher Exzellenz stützen einen Kreislauf der Abhängigkeit, der den wissenschaftlichen Fortschritt behindert. Diese Dynamik zwingt Forschende aus dem Globalen Süden, die Relevanz ihrer Arbeit für den lokalen Kontext ihrer Forschung und ihre eigenen Bedürfnisse zu übergehen. Für eine nachhaltige Gleichberechtigung ist deshalb ein Umfeld nötig, in dem diese, für sie relevanten Fragen gestellt und mit Hilfe geeigneter Methoden beantwortet werden können. Daher ist eine Abkehr nötig von der mentalen Distinktion zwischen dem „Wir“ und dem „Sie“. An ihre Stelle sollte die Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Anliegen treten, die der Süd-Nord-Dynamik innewohnen. Dafür skizzieren wir nun einige Vorschläge, die zu einer gleichberechtigten Forschungszusammenarbeit beitragen können.
Um das Machtungleichgewicht zwischen dem Süden und dem Norden zu überwinden, ist es unerlässlich, Einstellungen zu überdenken. Margarita Gómez hebt hervor, dass Forschende aus dem Norden mehr Bescheidenheit zeigen sollten und anerkennen, dass Forschende aus dem Global Süden oft ein tieferes Kontextwissen in ihrer Region haben. Zugleich sollte die Wissenschaft offen sein für neue Wissensformen und Methoden, auch wenn sie zunächst unbekannt erscheinen mögen. Außerdem sollten sich Forschende ihrer eigenen Position in Forschungsprojekten außerhalb des eigenen kulturellen Umfelds bewusst werden. Hilfe bietet beispielsweise das „Research Justice Worksheet“ der Nichtregierungsorganisation Free Radicals.
Darüber hinaus sollten wissenschaftliche Netzwerke geöffnet und erweitert werden. Autor*innen aus dem Globalen Norden sollten angehalten werden, in ihren Lebensläufen Ko-Autor*innenschaften mit Forschenden aus dem Globalen Süden und andere Formen des Engagements hervorzuheben. Wichtig wäre es auch, die im Forschungskontext relevanten Sprachen zu erlernen. Dezidierte Stipendien für Forschende aus dem Globalen Süden sind zwar schon ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch muss auch ohne das Etikett „Globaler Süden“ eine Chance auf akademischen Erfolg bestehen. Dazu sollte die Repräsentation von Forschenden aus dem Globalen Süden in Einstellungs- und Finanzierungsausschüssen gestärkt und die Einstellungskriterien auf Chancenungleichheit überprüft werden. Zudem sollten sich westliche Forschungseinrichtungen bei ihren Politiker*innen für eine Vereinfachung der Visaverfahren für Forscher*innen einsetzen, um Feldarbeit, Forschungsaufenthalte und die Teilnahme an Konferenzen zu ermöglichen, oder die Verlegung von Konferenzen in Länder mit weniger restriktiven Visaverfahren in Betracht ziehen.
Darüber hinaus müssen mehr langfristige Mittel direkt an Einrichtungen im Globalen Süden fließen, um autonome Forschung zu ermöglichen. So sollten beispielsweise bei einem Zuschuss für eine Studie in Sambia mindestens 75 Prozent der Mittel für Gehälter im Land selbst ausgegeben werden. Hat eine Organisation Schwierigkeiten, die administrativen Kriterien einer Förderung zu erfüllen, so sollte eine entsprechende Unterstützung geleistet werden. Durch die Erforschung lokal relevanter Fragestellungen und die angemessene Einbeziehung lokaler politischer und zivilgesellschaftlicher Akteure kann so eine autonome Wissenschaftslandschaft etabliert werden, die direkten Einfluss auf wichtige Entscheidungsprozesse haben kann.
Aus unseren Interviews ziehen wir somit diese Schlussfolgerungen: Um das volle Potenzial internationaler Zusammenarbeit auszuschöpfen, ist es unerlässlich, gleichberechtigte Partnerschaften innerhalb der internationalen Forschungsgemeinschaft zu etablieren. Dies erfordert eine gesteigerte Wertschätzung für neue Formen des Wissens und ein weites Verständnis wissenschaftlicher Exzellenz, durchlässige akademische Netzwerke sowie nachhaltige und gerechte Finanzierungsbedingungen. Vorherrschende Vorurteile müssen hinterfragt werden und die Kultur muss sich wegbewegen von einem „Gefallen für den Globalen Süden“ hin zu echtem gegenseitigem Respekt, so Bruce Mutsvairo, Professor für Media, Politics, and the Global South an der Universität Utrecht. Eine Welt mit globalen Problemen braucht globale Lösungen, und dazu benötigen alle Parteien einen gleichberechtigten Platz am Tisch.
Wir danken unseren Interviewpartner*innen:
Hebatallah Adam, Professorin für Wirtschaftswissenschaften und stellvertretende Dekanin für akademische Angelegenheiten an der Jindal School of International Affairs (JSIA)
Jacqueline Braveboy-Wagner, emeritierte Professorin am City College of New York
Raewyn Connell, emeritierte Professorin an der University of Sydney
Margarita Gómez, geschäftsführende Direktorin bei Southern Voice, einer Plattform für Think Tanks
Geetika Khanduja, Programmbeauftragte für Evidence Use and Research Partnerships bei Southern Voice
Bruce Mutsvairo, Professor für Media, Politics, and the Global South an der Utrecht University
Literatur
Chelwa, Grieve: „Does Economics Have an ‚Africa Problem‘?“. In: Economy and Society, 2021, Jg. 50, H. 1, S. 78-99. DOI: 10.1080/03085147.2021.1841933.
Csomós, György: „Mapping the Geography of Editors-in-Chief“. In: Journal of Data and Information Science, 2024, Jg. 9, H. 1, S. 124-137. DOI: 10.2478/jdis-2024-0002.
Free Radicals (Hg.): Research Justice Worksheet, 2020. Online: https://freerads.org/wp-content/uploads/2020/06/research-justice-worksheet.pdf (Stand 04.04.2024).
Khanduja, G. (2023). Redefining equitable Research Partnerships: a Southern led Action Agenda. Retrievable online at https://southernvoice.org/redefining-equitable-research-partnerships-a-southern-led-action-agenda/ (Stand 04.04.2024)
10.6.24
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Bildunterschrift: Teilnehmer*innen des 2nd Forum on China-Africa Cooperation in Agriculture besuchen ein Innovationszentrum für landwirtschaftliche Wissenschaft und Technologie in Sanya in der südchinesischen Provinz Hainan, 14. Nov. 2023.