Was Deutschland attraktiv macht
Stimmen aus Politik, Zivilgesellschaft und Migrationsforschung argumentieren, dass Menschen aus autoritären Staaten nach Deutschland fliehen, weil sie auf der Suche nach Demokratie und Freiheit sind. Andere halten dagegen, es gehe eher um wirtschaftliche Möglichkeiten. Ein Umfrage-Experiment in den westafrikanischen muslimischen Ländern Senegal und Gambia gibt Hinweise darauf, warum es Migrant:innen nach Deutschland zieht.
In den vergangenen Jahren kamen viele Geflüchtete aus nicht-westlichen, islamischen Ländern nach Deutschland. Sie stammen aus Ländern, die durch politische Instabilität oder sogar Bürgerkriege und durch massive wirtschaftliche Probleme gekennzeichnet sind. Welche Werte und Glaubenssätze bringen diese Migrant:innen mit? Welche Einstellung haben sie zur liberalen Demokratie, in die sie einwandern?
Häufig wird argumentiert, dass Geflüchtete aus autoritären Staaten gerade deshalb nach Deutschland kommen, weil sie auf der Suche nach Demokratie und Freiheit sind. In der Sprache der Migrationsforschung wäre die liberale Demokratie also ein Pull-Faktor – ein Element, das Menschen anzieht. Kritiker dieser These weisen darauf hin, dass Deutschland vor allem aufgrund seines hohen Wohlstandsniveaus und seines starken Sozialstaats attraktiv für Menschen aus ärmeren Ländern ist. Selbst wenn die erste These gilt, also die Attraktivität der liberalen Demokratie ein wichtiger Faktor ist, heißt das allerdings noch lange nicht, dass Migrant:innen liberal-demokratische Institutionen prinzipiell unterstützen. Sie könnten liberal-demokratische Prinzipien auch lediglich instrumentell unterstützen, wenn sie etwa von Flüchtlingsschutz, Minderheitenrechten und Religionsfreiheit profitieren wollen, ohne die Werte einer liberalen Demokratie grundsätzlich zu verinnerlichen.
In meiner Dissertation frage ich: Wie unterscheiden sich Menschen in Deutschland ohne Migrationsgeschichte und Menschen in den Herkunftsländern muslimischer Migrant:innen bezogen auf liberal-demokratische Werte? Und inwiefern verändern sich diese kulturellen Unterschiede durch den Prozess von Migration und Integration? Nun sind Migrant:innen nicht einfach repräsentativ für die Bevölkerung ihrer Herkunftsländer. Es ist eher zu vermuten, dass sie sich von dieser Bevölkerung unterscheiden. Die Frage ist, wie diese Unterschiede zu erklären sind. Die Theorie der „kulturellen Selbstselektion“ besagt, dass nicht zufällig irgendwelche Menschen auswandern, sondern dass Migrant:innen besondere kulturelle Eigenschaften aufweisen. So können insbesondere Menschen mit liberal-demokratischen Werten, kurz: „Demokraten“, von liberal-demokratischen Eigenschaften des Aufnahmelandes angezogen werden. Allerdings können Demokraten auch aus anderen, indirekten Gründen eher in Demokratien auswandern als Nicht-Demokraten, beispielsweise weil sie tendenziell ein anderes Mindset haben, etwa offener für Veränderungen sind.
Studien zeigen, dass Migrant:innen aus autokratischen Ländern oft deutlich stärkere liberal-demokratische Werte aufweisen als Menschen in den Herkunftsländern. Das gilt selbst für Migrant:innen, die erst vor kurzem gekommen sind, bei denen also Integrationseffekte nur sehr gering ausfallen können. Das bestätigen zum Beispiel Studien von Jürgen Schupp und Kolleg:innen für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und von Lukas M. Fuchs, die auf einer groß angelegten Befragung von Geflüchteten basieren, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Zusammenarbeit mit dem Sozio-oekonomischen Panel erstellt haben. In dieser Umfrage wurden Geflüchtete nicht nur nach ihren liberal-demokratischen Einstellungen gefragt, sondern auch danach, welche persönlichen Gründe sie für die Emigration aus dem Herkunftsland und die Immigration nach Deutschland hatten. Bei der Veröffentlichung der Ergebnisse äußerte sich die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zuversichtlich: „Die zu uns kommenden Menschen sind gerade wegen unserer Werte und Bürger- sowie Minderheitenrechte nach Deutschland gekommen.“ Die Qualität der Ergebnisse dieser Umfrage ist allerdings eingeschränkt, weil viele Befragte keine Auskunft zu politisch sensiblen Fragen geben wollten und weil zu vermuten ist, dass zumindest ein Teil der Befragten sozial erwünschte Antworten gegeben hat. Es stellt sich zudem die Frage, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen Migration und Demokratie tatsächlich belegt werden kann.
Dieser Frage bin ich konkret anhand von Analysen für die westafrikanischen Länder Senegal und Gambia nachgegangen. Wenn liberal-demokratische Eigenschaften des Ziellandes besonders wünschenswert für Demokraten sind und diese dazu veranlassen, dahin einwandern zu wollen, dann kann dies zu kultureller Selbstselektion bezogen auf liberal-demokratische Werte beitragen. Hierbei ist allerdings etwas Wichtiges zu beachten: Menschen können ihre Wünsche, die von bestimmten Pull-Faktoren und Push-Faktoren abhängen, nicht einfach umsetzen. Sie müssen auch die Möglichkeiten dazu haben, ihre Wünsche oder Pläne zu realisieren. Laut Umfragen würden sehr viele Menschen in Westafrika gerne in ein attraktives Zielland auswandern, aber nur die wenigstens tun es letztendlich. In meiner Dissertation betrachte ich die Wünsche der Menschen, nicht ihre Umsetzung.
Meine Studie hat eine weitere wichtige Einschränkung: Die Forschungsergebnisse lassen sich nur bedingt auf Menschen aus Bürgerkriegsländern oder Ländern mit starker Repression übertragen. Die politischen Systeme von Senegal und Gambia befinden sich in einem Mittelfeld, zwischen fragiler Demokratie und elektoraler Autokratie. Trotzdem sind beide Länder weit von einer konsolidierten Demokratie entfernt, insbesondere was individuelle Freiheitsrechte anbelangt, auf die ich mich konzentriere. Wenn Menschen aus Senegal und Gambia in ein Land mit einer konsolidierten, liberalen Demokratie auswandern, können sie also viel Freiheit gewinnen.
Um meine Forschungsfragen zu beantworten, analysiere ich die erste Welle der „Senegambia“-Umfrage. Kolleg:innen in der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung haben diese Umfrage im Rahmen des ExiTT/TRANSMIT Projekts im Jahr 2019 in Senegal und Gambia durchgeführt. Sie umfasst mehr als 6.200 Befragte, die weitgehend repräsentativ für die Gruppe potenzieller Emigrant:innen sind (15 bis 35 Jahre alt, überwiegend männlich). Die Umfrage besteht aus mehreren Teilen – ich greife vor allem auf ein Umfrage-Experiment zurück. Darin werden die Teilnehmer:innen gefragt, wie gerne sie in ein bestimmtes Land einwandern würden. Es werden verschiedene fiktive Länder angeboten, die sich in fünf Dimensionen unterscheiden: Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung für Frauen (als liberal-demokratische Eigenschaften), Mehrheitsreligion und große Diaspora (als ethnisch-religiöse Zusammensetzung) und gute Arbeitsmöglichkeiten (als wirtschaftliche Bedingungen). Jedem Teilnehmer und jeder Teilnehmerin wird in der Umfrage nur eine von 32 Versionen des fiktiven Ziellandes beschrieben – der Zufall entscheidet über die Zuteilung. Nach der Beschreibung des Ziellandes werden die Teilnehmenden gefragt, wie gerne sie in dieses Land auswandern würden. So lautete die konkrete Frage:
„Stellen Sie sich ein [muslimisches, christliches] Land vor, in dem die Menschen die Regierung frei kritisieren [können, nicht können] [und, aber] die Frauen [können, können nicht] frei entscheiden, wie sie leben wollen. In diesem Land gibt es eine [große, kleine] Gemeinschaft von Landsleuten, [aber/und] es ist [einfach, schwierig], einen Job zu finden. Auf einer Skala von 0 bis 100, wobei 0 für ‚überhaupt nicht‘ und 100 für ‚sehr‘ steht, wie sehr würden Sie gerne in dieses Land auswandern?“
Das Umfrage-Experiment ermöglicht es mir, die kausale Behauptung von Andrea Nahles zu prüfen, dass Menschen aufgrund der liberal-demokratischen Prinzipien nach Deutschland kommen. Natürlich kann ich ihre Behauptung nur in Bezug auf Menschen aus Senegal und Gambia und in Bezug auf die untersuchten liberal-demokratischen Eigenschaften des Ziellandes testen. Andere liberal-demokratische Prinzipien könnten eventuell eine andere Sog-Wirkung haben. Dazu untersuche ich, ob sich Teilnehmer:innen, deren beschriebenes fiktives Land eine oder beide liberal-demokratische Eigenschaft(en) aufweist, von Teilnehmer:innen, deren fiktives Land diese Eigenschaft nicht aufweist, in Bezug auf die geäußerten Migrationswünsche unterscheiden. Dadurch, dass den Teilnehmer:innen nur per Zufall eine bestimmte Version des fiktiven Land beschrieben wird, unterscheiden sich die beiden Gruppen nur in Bezug auf die Eigenschaften des fiktiven Ziellandes und nicht auf andere Eigenschaften wie beispielsweise Geschlecht, Einkommen oder Charaktereigenschaften. Die Anlage des Experiments ermöglicht es auszuschließen, dass andere Faktoren als die Ländereigenschaften Unterschiede zwischen den Gruppen erklären. Wenn ich zum Beispiel herausfinde, dass Befragte aus Gambia und Senegal, deren hypothetisches Zielland durch Meinungsfreiheit gekennzeichnet ist, eine höhere Bereitschaft zeigen auszuwandern als Gambier und Senegalesen, deren fiktives Zielland keine Meinungsfreiheit aufweist, dann erklärt allein der Pull-Faktor Meinungsfreiheit diese Unterschiede. Des Weiteren untersuche ich, ob Demokraten stärker von diesen liberal-demokratischen Eigenschaften angezogen werden als Nicht-Demokraten. Eine zusätzliche Analyse-Ebene ergibt sich dadurch, dass die Teilnehmenden auch jenseits der fiktiven Länder direkt gefragt werden, welche Eigenschaften ihnen bei einem Zielland wichtig wären.
Wenn Menschen in Senegal und Gambia direkt nach den präferierten Eigenschaften des Ziellands gefragt werden, spielen liberal-demokratische Eigenschaften zwar eine Rolle, allerdings eine geringere als wirtschaftliche Möglichkeiten. Das spiegelt sich noch deutlicher im Umfrage-Experiment. Hier zeigen die Analysen, dass potenzielle Migrant:innen aus Senegal und Gambia sowohl vom Grundrecht der Meinungsfreiheit als auch von der Selbstbestimmung für Frauen im Zielland leicht angezogen werden. Allerdings haben gute Arbeitsmöglichkeiten einen deutlich größeren Effekt. Senegalesen und Gambier sind auch eher geneigt, in das fiktive Zielland einzuwandern, wenn dessen Mehrheitsreligion der eigenen Religion entsprechen würde, beispielsweise wenn Muslime aus Senegal und Gambia in ein anderes muslimisch geprägtes Land wie die Türkei auswandern. Die Größe der Diaspora – also wie viele Gambier und Senegalesen in dem hypothetischen Zielland leben – hat keinen Einfluss. Dieses Ergebnis hat mich auf den ersten Blick überrascht, weil die Diaspora in der Migrationsforschung bislang eine wichtige Rolle für die Erklärung von Migrationswünschen spielte. Verschiedene Überlegungen können diesen scheinbaren Widerspruch auflösen: Erstens vergleiche ich im Experiment ein fiktives Land mit einer großen Diaspora mit einem fiktiven Land mit einer kleinen Diaspora. Es könnte sein, dass eine kleine Diaspora für potenzielle Migrant:innen ausreicht und eine größere Diaspora daher keinen großen Mehrwert bringt. Zweitens ist es wahrscheinlich, dass die Qualität der Diaspora wichtiger ist als die Quantität, also ob potenzielle Migrant:innen Familie, Freunde und Bekannte im Zielland vorfinden. Drittens und vielleicht am wichtigsten: Diaspora-Netzwerke sind nicht unbedingt der Grund, warum Menschen in ein Land auswandern wollen. Allerdings ermöglicht die Diaspora es potenziellen Migrant:innen, ihre Auswanderungswünsche umzusetzen. Im Umfrage-Experiment betrachte ich jedoch, wie beschrieben, nur die Wünsche der Menschen.
Liberal-demokratische Eigenschaften eines Landes stellen also tatsächlich Pull-Faktoren dar, sie sind jedoch im Verhältnis zum wirtschaftlichen Pull-Faktor deutlich weniger bedeutsam. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass besonders Menschen mit demokratischen Einstellungen in demokratische Länder kommen. Dafür müsste gezeigt werden, dass Demokraten mehr von den liberal-demokratischen Eigenschaften angezogen werden als Nicht-Demokraten. Tatsächlich aber gibt es hier keine Unterschiede zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten, also keine Hinweise darauf, dass Demokraten überproportional in liberale Demokratien migrieren möchten. Könnte eine kulturelle Selbstselektion eher indirekt vorliegen – also dass Demokraten stärker als Nicht-Demokraten von der wirtschaftlichen Stärke von liberalen Demokratien angezogen werden? Tatsächlich zeigen die Daten, dass Demokraten mehr durch gute Arbeitsmöglichkeiten angezogen werden als Nicht-Demokraten. Allerdings sind Demokraten selbst bei guten Arbeitsmöglichkeiten nicht geneigter zu migrieren als Nicht-Demokraten. Demokraten zeigen tendenziell eine geringere Bereitschaft zu migrieren, vielleicht weil sie im Heimatland bessere Perspektiven haben. Demokraten sind tendenziell sozio-ökonomisch bessergestellt als Nicht-Demokraten.
In Senegal und Gambia wollen Demokraten genauso wie Nicht-Demokraten in ein wohlhabendes und freies Land wie Deutschland auswandern. Der Mechanismus der kulturellen Selbstselektion kann so nicht herangezogen werden, um zu erklären, warum Muslime in Deutschland deutlich stärkere liberal-demokratische Werte aufweisen als Menschen in den Herkunftsländern. Können also alleine Integrationsprozesse und eventuell Migrationserfahrungen die höheren Werte erklären? Ich muss hier noch einmal darauf hinweisen, dass ich in meiner Analyse nur die Migrationswünsche betrachte und nicht die Möglichkeit, diese umzusetzen. Zukünftige Forschung könnte untersuchen, ob potenzielle Migrant:innen mit stärkeren liberal-demokratischen Werten eher die Möglichkeiten haben, ihre Wünsche und Pläne zur Auswanderung zu verwirklichen als andere. Tatsächlich deutet ein erster Blick auf meine Daten in diese Richtung, weil, wie erwähnt, Demokraten sozio-ökonomisch bessergestellt sind. Das dürfte Demokraten in eine bessere Lage versetzen, ihre Migrationsbestrebungen auch umzusetzen, selbst wenn diese insgesamt geringer ausgeprägt sind als bei Nicht-Demokraten.
Literatur
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Fuchs, Lukas M./Fan, Yu/Scheve, Christian: „Value Differences between Refugees and German Citizens: Insights from a Representative Survey“. In: International Migration, 2021, Jg. 59, H. 5, S. 59-81. https://doi.org/10.1111/imig.12795
Pickel, Gert: Weltanschauliche Vielfalt und Demokratie: Wie sich religiöse Pluralität auf die politische Kultur auswirkt. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2019.
26.3.2024
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