Die Kopf- und die Augenmenschen
Sozialforschung und Design begegnen sich im "Visual Society Program"
Von Gabriele Kammerer
Julia Schubert arbeitet an einem „Feierlichkeitsscore“. 46 Fotos von Weihnachtsessen hat sie dafür ausgewertet. Wie vornehm ist das Arrangement der Gerichte, oder wie ausgelassen? Gibt es Alkohol, gibt es Fleisch? Mit diesen Fragen hat die Gestalterin, die an der Berliner Universität der Künste (UdK) im Masterstudiengang „Visuelle Kommunikation“studiert, die Bilder ausgewertet. Soziale und kulturelle Aspekte von Essen interessieren sie, und hierin trifft sie sich mit Steffen Huck, Ökonom am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Er hat die junge Gestalterin in sein Forschungsprojekt über „Tiere als Nahrung“eingebunden. Den Rahmen für diese fächerübergreifende Kooperation bildet das „Visual Society Program“ von WZB und UdK.
„Der Transfer von Wissen in die Gesellschaft ist ein Riesenthema in der Gestaltungsszene“, erklärt Professor David Skopec, der als Leiter der Klasse „Visuelle Systeme“ das Projekt von UdK-Seite betreut. „Aber es wird so wenig experimentiert in diesem Bereich.“ Das wollen die Fellows des Projektes jetzt ändern. Julia Schubert wird in einem nächsten Schritt der Farbigkeit von Essen nachgehen. Hendrik Wittemeier hat bei ausführlichen sozialwissenschaftlichen Interviews zur Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit in Paaren hospitiert und arbeitet an einer visuellen Umsetzung seiner Eindrücke. Tobias Aigner hat sich mit Wissenschaftlerin Tine Hanrieder tief in die gesetzlichen Fallstricke internationaler Giftmüll-Exporte eingearbeitet, und Isabel Kronenberger unterstützt die WZB-Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik dabei, Plattformen für den Wissenstransfer zu entwerfen. Philipp Schäfer schließlich entwickelt, unterstützt von Protestforscher Dieter Rucht, eine Online-Datenbank, die politische Aktionen von der Sitzblockade bis zum Flugblatt versammeln soll – „eine Enzyklopädie alternativer Protestformen“, wie der Gestalter optimistisch verkündet.
Ein gewisses Maß an unbekümmertem Optimismus kann nicht schaden. Denn die UdK-Studierenden begeben sich alle nicht nur in ihnen eher fremde, sondern auch auf weite Felder. „Erstmal war da ganz, ganz viel Papier“, räumt Isabel Kronenberger ein, die mit den Wissenschaftsforschern vom WZB virtuelle und reale Innovationsräume gestalten will – eine Art Labors, in denen sich Vertreter von Theorie und Praxis treffen können. Wie diese Räume konkret aussehen werden, daran arbeiten zurzeit die Wissenschaftler und die Studentin, die daraus übrigens ihre Master-Arbeit machen wird.
Dass die Gestalter den Forschern so früh begegnen, ist Absicht in diesem Programm, für das auf WZB-Seite Forschungsplanungs-Referentin Jessica Haase verantwortlich zeichnet. Sie sollen nicht nur einfach wissenschaftliche Ergebnisse ansehnlich präsentieren, sondern durch ihre Sichtweise schon die Konzeption der Forschung mit beeinflussen. Voneinander lernen und miteinander gestalten – dieser interdisziplinäre Anspruch birgt so manche Herausforderung. Die zeitlichen Abläufe zum Beispiel sind sehr unterschiedlich „Wir als Gestalter kommen schneller zu konkreten Ergebnissen. Wenn wir so weit am Anfang mit einsteigen, brauchen wir einen ungewohnt langen Atem für die sozialwissenschaftlichen Prozesse“, gibt Isabel Kronenberger zu. Auch sprachlich gibt es Verständigungsschwierigkeiten. „Uns geht es ja um viel mehr als nur eine Bebilderung“, sagt David Skopec. „Erst einmal ist da die gedankliche Auseinandersetzung.“ Und da zwingen bisweilen die Designer die Wissenschaftler dazu, ihre Kernaussagen zu finden und klar zu formulieren.
Die fruchtbare Auseinandersetzung zwischen den Augen- und den Kopfmenschen hat gerade erst begonnen. Die erste Runde im „Visual Society Program“von WZB und UdK läuft noch bis Mitte 2016. Und weil dieses Programm offensichtlich für beide Seiten bereichernd ist, hat die UdK die zweite Runde bereits ausgeschrieben.