Entscheidung, Krieg und Identität oder wie das Entscheiden ganz einfach wird
Von Steffen Huck
Im Kern aller ökonomischen Analyse geht es immer nur um das eine: um den Trade-off, darum, dass wir nicht alles gleichzeitig haben können, dass die Entscheidung für das eine immer eine Entscheidung gegen das andere bedeutet. Selbst wenn wir uns entscheiden zu arbeiten, um von allem mehr zu haben und materielle Trade-offs zu mindern, stehen wir vor einem neuen, größeren Zielkonflikt, denn anstatt zu arbeiten, könnten wir auch die Sonne genießen oder Netflix schauen, auch dies ein Trade-off, da unsere Zeit nun einmal begrenzt ist, der Tag hat nur 24 Stunden, das Leben irgendwann ein Ende.
Lange hat sich die Ökonomik auf materielle Trade-offs und die, die sich aus der Endlichkeit unserer Zeit ergeben, beschränkt, aber seit der Jahrtausendwende, als der spätere Nobelpreisträger George Akerlof gemeinsam mit Rachel Kranton einen Aufsatz zu „Economics and Identity“ veröffentlichte, untersucht sie auch eine ganz andere Form der Abwägung, der wir uns beständig stellen müssen, der Abwägung zwischen materiellen Gütern und dem Bild, das wir von uns haben, dem Menschen, der wir gerne wären – unserer Identität.
Die meisten von uns denken gerne, dass sie gut oder doch zumindest nicht böse sind, und fühlen sich vermeintlich festen Werten verschrieben. Aber dann stehen wir vor tollen Sonderangeboten, schönen bunten T-Shirts, leckeren Schweinekoteletts, so preisgünstig, dass sich die Frage des materiellen Trade-offs nicht stellt, sodass alles ganz einfach wäre, wäre da nicht die Kinderarbeit im T-Shirt, das viele Wasser für die Baumwolle, das Leiden der Schweine im Käfig und auf der letzten Fahrt zum Schlachthof.
Die verhaltensökonomische Forschung der letzten beiden Jahrzehnte hat eindrucksvoll demonstriert, wie schwerwiegend diese Trade-offs zwischen Haben und Sein, zwischen materiellem Wohlsein und Identität immer wieder für uns sind und auf welch trickreiche Strategien wir mitunter zurückgreifen, um die aus ihnen resultierende kognitive Dissonanz zu vermeiden. Gerne schauen wir zum Beispiel einfach weg, wenn es irgend geht. Aber wenn Wegschauen keine Option ist, zum Beispiel, wenn auf der T-Shirt-Verpackung fett stünde, dass ihr Inhalt mit Kinderarbeit produziert wurde, erweist sich mitunter die Dominanz der Identität. Wir legen die Packung wieder zurück, auch wenn es schwerfällt, weil uns die Menschenrechte wichtig sind oder der Klimaschutz.
Identitäten beeinflussen selbst das Entscheidungsverhalten von Kindern im Grundschulalter. Kai Barron et al. zeigen zum Beispiel, dass jordanische Kinder mit palästinensischen Wurzeln großzügiger zu anderen Kindern mit Flüchtlingshintergrund sind, konkret: zu syrischen Kindern in den sogenannten Double-Shift Schools in Jordanien, die vormittags jordanische und nachmittags syrische Kinder unterrichten.
Das Ausbrechen aus der Logik des Habens, die unseren Alltag dominiert, ist aber nicht nur identitätsstiftend, es vermittelt uns darüber hinaus, dass wir womöglich selbst für uns entscheiden können, dass wir keine Maschine sind, programmiert mit einer Nutzenfunktion, die alle Trade-offs für uns löst. Es lässt uns an freien Willen glauben, daran, dass es etwas in uns gibt, was sich dem Vorhersagbaren entzieht – an einen transzendentalen ich-affirmativen Funken.
Wer Glück hat, erlebt es in der Liebe.
Wer Pech hat, erlebt es im Krieg.
Viele, mit denen ich in den letzten Tagen geredet habe, fragen sich, was sie selbst tun würden, wären sie Ukrainer, oder was sie tun würden, sollte der Krieg auf die NATO ausgeweitet werden. Fast alle bewundern die Ukrainer, ihren Mut und die unerschütterliche Gelassenheit ihrer Kämpfer, die sich nahezu keiner erklären kann. Was nicht wunder nimmt, zeigt es doch, dass wir die Kraft der Identität im Alltag selten so machtvoll erleben. Wer wie Isolde für die Liebe stirbt, wer als Elternteil den Job kündigt, um für das kranke Kind da zu sein, oder wer als Feuerwehrmann in ein brennendes Haus rennt, erlebt eine sonst nicht vorstellbare Einfachheit des Seins, in der alle Trade-offs verschwinden, in der nur noch das Ich steht, das sich selbst beweist. So erleben es auch die, die im Krieg die Entscheidung treffen, alles andere zurückzulassen. Sie wissen plötzlich, wer sie sind und dass sie sind.
Das ist natürlich alles nicht neu, und wir wissen aus den schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, zu welchen Katastrophen diese Form der kollektiven Selbstaffirmation führen kann. Weswegen einige Kommentatoren im Westen den Ukrainern zur Kapitulation raten, wie zum Beispiel der ehemalige Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer, jüngst auf Spiegel online. Aus klassischer, rein materiell orientierter ökonomischer Sicht kann man ihn verstehen: Ein Sieg Putins würde Deutschland und seinen Nachbarländern vermutlich Zeit kaufen und uns erlauben, fürs Erste in einen bequemen Alltag zurückzukehren. Fischer verkennt aber, dass die Ukrainer im Unterschied zu Nazi-Deutschland und dem imperialen Japan im Zweiten Weltkrieg für das kämpfen, was wir gemeinhin in liberalen Demokratien als die richtige Sache benennen würden: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Und er verkennt des Weiteren, dass es gerade nicht nur um die Zeit geht, die uns selbst zum Genuss verbleibt, sondern auch um die Zukunft unserer Kinder.
Die kämpfenden Ukrainer haben soeben zu ihrem Selbst gefunden, kollektiv, aber auch jeder und jede für sich selbst. Für sie ist die Entscheidung einfach geworden. Sie belehren zu wollen, ist Paternalismus der schlimmsten Sorte, ein Bekenntnis zum reinen Materialismus, für das einst die Ökonomik auch stand. Seien wir froh, diese Zeiten, in denen die Ökonomik als düstere Wissenschaft galt, hinter uns gelassen zu haben.
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15.3.22