Zwei Menschenschatten und Europasterne
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Frieden schaffen: nicht nur mit Waffen

Von Günther Schmid

"Wir müssen handeln, auch wenn wir hadern“ – eine geglückte Formulierung unserer Außenministerin Annalena Baerbock. Aber wie aus dem so angedeuteten Dilemma zwischen Realpolitik und Moral herauskommen? Auch Deutschlands Vordenker Jürgen Habermas ist um elegante Formulierungen nicht verlegen. „Sie (gemeint: die einstigen Pazifisten) haben sich nicht zu Realisten bekehrt, sondern überschlagen sich geradezu in Realismus.“ Es erscheint wie ein Treppenwitz der Geschichte, dass die so Adressierten ihren einstigen Wahlspruch über Nacht umkehrten: Statt „Frieden schaffen ohne Waffen“ kann es nur noch – posaunen grüne Sprecher – ein „Frieden schaffen mit Waffen“ geben. Die liberaleVorsitzende des Verteidigungsausschusses flankiert diese „Zeitenwende“ mit dem Schneid eines Generals und scheint für die Skrupel eines räsonierenden Bundeskanzlers kein Verständnis zu haben.

Habermas seinerseits formuliert vorsichtig: Es gehe nicht darum, den Krieg zu gewinnen, sondern „dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf“. Gewiss, eine richtige und wichtige Korrektur. Diesen Krieg kann niemand gewinnen. Ja: Die Menschen in der Ukraine brauchen Waffen zur Verteidigung ihrer und unserer Freiheit. Nein: Waffen, die Menschenleben vernichten, werden weder Wladimir Putin beeindrucken noch einen nachhaltigen Frieden stiften.

Aber welche Waffen könnten denn aus diesem Dilemma herausführen? Habermas deutet den Ausweg an: „Eine Europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will, wird nur dann politisch handlungsfähig bleiben, wenn sie auch militärisch auf eigenen Beinen stehen kann. Macrons Wiederwahl markiert eine Galgenfrist. Aber zunächst müssen wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden.“

„Konstruktiver Ausgang“ – was könnte das heißen? Konstruktion heißt aufbauen, auf das zuverlässig weiter aufgebaut werden kann. Was könnte das sein? Niemand hat die Lösung, aber wir haben einen Kompass: Dieser zeigt nicht nur auf unsere Werte von Freiheit, Selbstbestimmung und Solidarität, sondern auch auf das institutionelle Gerüst ihrer Garantie: Demokratie, Meinungsfreiheit, Rechts- und Sozialstaatlichkeit. Dieses Gerüst kann nicht mehr der Nationalstaat sein. Die zunehmenden Verflechtungen (die Klimakrise als Prototyp) fordern ein zunehmend transnationales institutionelles Gerüst, um unsere Werte zu verteidigen. Europa – verstanden als demokratisches föderales Gebilde – könnte und sollte Vorbild sein und werden. Ein solches Vorbild wäre die beste, zumindest eine bessere und nachhaltigere Waffe gegen brutale Aggressoren.

Was wäre also zu tun? Wie könnte die – gegenüber den leider notwendigen Panzern oder Flugabwehrraketen – letztlich wirksamere Waffe Europas aussehen, um nicht nur die militärische Verteidigung der Ukraine zu gewährleisten, sondern auch einen nachhaltigen Frieden mit (und nicht gegen) Russland einzuleiten und zu sichern? Dass es nicht genügt, die „Zeitenwende“ durch ein 100-Milliarden- Sondervermögen zu meistern, wurde schon von mehreren Seiten moniert, u. a. von Wolfgang Merkel und Wolfgang Schroeder. Dass die Aufrüstung die noch zarte Pflanze des europäischen Sozialstaats bedrohen könnte, hat der scheidende DGB-Chef Reiner Hoffmann in einer mutigen Rede am 1. Mai zum Ausdruck gebracht. Die Idee Europa ist nicht erst seit dem 24. Februar 2022 in Lebensgefahr. Selbst wenn die EU sich aufraffen sollte, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft – wie Habermas zu hoffen scheint – in die Wege zu leiten, wäre das Kernproblem noch nicht gelöst. Zwar hat die EU mit dem Kurzarbeit-Programm SURE und dem Europäischen Wiederaufbauprogramm zur Lösung der SARS-Pandemie bisher nicht für möglich gehaltene Wege europäischer Solidarität eingeschlagen, aber der gordische Knoten in Richtung einer europäischen Fiskal- und Sozialunion ist noch nicht durchschlagen. Auch die Demokratisierung europäischer Kerninstitutionen (Parlament, EU-Kommission, Europäischer Rat) steht erst am Anfang, wie uns jüngst der Bericht der „Konferenz zur Zukunft Europas“ vor Augen führt.

Warum Fiskalunion? Dafür sprechen mehrere Gründe. Zunächst: Die 27-EU-Staaten geben dreimal mehr Geld für ihr Militär aus als Russland und stehen dennoch dem Aggressor ohne die USA hilflos gegenüber; diese Mittel könnten durch Koordination und Kooperation effizienter eingesetzt werden. Zweitens und noch wichtiger: Die Klima- und Energiekrise fordern eine beschleunigte Innovationsdynamik heraus. Die Technologie sauberer (‚grüner‘) Energie (Solar, Wind, Wasserstoff, Bio) kann sich nur gemeinschaftlich entfalten. Je globaler diese Technologie eingesetzt wird, desto schneller der Prozess: Die Anwendung sauberer oder grüner Technologie in Europa verbilligt ihre Preise auch in den USA, China, Indien, Afrika und – last but not least – in Russland.

Es sind nach Meinung von Experten vor allem sechs Bereiche, in welche die EU-Fiskalunion so schnell wie möglich massiv gemeinschaftlich investieren sollte: (1) in dezentrale und dauerhafte Energiespeicher; (2) in EU-raumübergreifende Transmission von Elektrizität; (3) in die Elektrifizierung von Gebäudeheizungen (vor allem Wärmepumpen); (4) in feststehende und vor allem schwimmende Offshore-Windkraftanlagen; (5) in Elektrolyse von Wasser (grüner Wasserstoff); (6) in die „nächste Generation“ klimaneutraler Betriebe durch Nutzung geothermaler Energie und Kernfusion.

Eine derartige Investitionsoffensive der EU würde den Strukturwandel massiv beschleunigen, sodass erheblich mehr Mittel für soziale Investitionen erforderlich sind, um einerseits Arbeitsplatzverluste und entsprechende Einkommensverluste auszugleichen und andererseits die erforderlichen neuen Qualifikationen oder Kompetenzen zu schaffen wie auch zu entsprechender beruflicher wie regionaler Mobilität zu motivieren. Der Just Transition Fund, den der mittelfristige Finanzplan der EU (2021-2027) mit bescheidenen Mitteln (17,5 Mrd. Euro) zur Abfederung des Strukturwandels von der Kohle zu sauberer Energie bereitstellt, ist nur ein winziges Modell gegenüber dem, was der EU nun als Aufgabe zukommt.

Es ist jedoch nicht nur eine Frage der Mittel, sondern auch eine Frage der geeigneten Institutionen, diese gerecht und effizient einzusetzen. Nur die Schaffung einer wirklichen Europäischen Sozialunion wird dieser Aufgabe gewachsen sein. Und diese Union wird – horribile dictu – eine EU-Transferunion sein müssen. Diese Sozialunion sollte auf sechs Säulen basieren: (1) Fortsetzung der Demokratisierung zentraler europäischer Institutionen, vor allem europaweite Wahlen; (2) Budgetsouveränität des Europäischen Parlaments; (3) Durchsetzung des Mehrheitsprinzips bei wichtigen Entscheidungen; (4) Erweiterung der eigenständigen Finanzmittel der EU; (5) Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte in einklagbare Rechte, u. a. Recht auf Weiterbildung; (6) Erweiterung des Europäischen Sozialfonds (ESF) zu einem Europäischen Beschäftigungs- und Sozialfonds (EBSF), der das Prinzip der Arbeitslosenversicherung in ein Prinzip der Einkommens- oder Arbeitslebensversicherung transformiert.

Vor 10 Jahren (2012) hat die Europäische Union – zur Überraschung vieler – den Friedensnobelpreis erhalten. Damit wurden die 500 Millionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger für ihre tatsächliche Leistung als Friedensstifter geehrt, d. h. zu ihrer Bereitschaft der Aussöhnung zwischen ehemaligen Todfeinden. Vor 13 Jahren (2009) hatte Präsident Obama – zur Überraschung vieler – den Friedensnobelpreis erhalten für eine erhoffte Leistung, u. a. Frieden im Nahen Osten zu stiften; leider blieb er hinter den Erwartungen weit zurück. Immerhin sollte an die damalige realistische Einschätzung seiner Nobelpreisrede angeknüpft werden: Gewalt werde nicht so schnell aus unserem Alltag zu verbannen sein; sie könnte nur „schrittweise durch Institutionen eingedämmt“ werden. Europa hat es sich möglicherweise – nach dem Motto: wir haben unseren Beitrag geleistet – nach Erhalt des Friedensnobelpreises zu bequem gemacht: Leider war das eine gewaltige Fehleinschätzung. Europa muss den Stein friedensstiftender Institutionen wie Sisyphos erneut den Berg hinauf wuchten, und dieser „Stein“ wiegt schwerer als Waffen.