Weniger Stimmen für die Volksparteien
Warum Lokalzeitungssterben zur Polarisierung der Wählerschaft beiträgt
Von Fabio Ellger, Hanno Hilbig, Sascha Riaz und Philipp Tillmann
Was erklärt die zunehmende Polarisierung von Wählerinnen und Wählern? In den letzten Jahren wurden mehrere Antworten diskutiert: Die Zersplitterung der Medienlandschaft, das Aufkeimen von Fake News aus sogenannten alternativen Nachrichtenquellen im Internet oder die durch Filterblasen entstehende soziale Isolierung. Das Phänomen der Polarisierung ist jedoch nicht neu – und die genannten Erklärungsansätze greifen deshalb zu kurz. Denn auch vor der Verbreitung des Internets ließen sich bereits Polarisierungstendenzen erkennen. In Deutschland beispielsweise haben die etablierten Volksparteien seit den 1980er-Jahren kontinuierlich Stimmen an kleinere Parteien verloren.
In einem neuen Forschungsprojekt zeigen wir, dass das Sterben von Lokalzeitungen über die letzten Jahrzehnte entscheidend zur Polarisierung der Wählerschaft beigetragen hat. Wir analysieren den Polarisierungsgrad von Wählerinnen und Wählern, gemessen an deren Verhalten am Wahltag. Dabei bestimmen wir Polarisierung auf zweierlei Weise. Erstens messen wir die ideologische Verteilung des Wahlverhaltens durch Daltons Polarisierungsindex. Der Index zeigt an, inwiefern die Stimmen in der politischen Mitte oder am linken oder rechten politischen Rand konzentriert sind. Für die Berechnung des Index werden unter anderem die im Manifesto-Projekt am WZB erhobenen Positionen der Parteien genutzt. Zweitens messen wir, ob sich Wähler:innen an der Urne für oder gegen eine der beiden etablierten Volksparteien entscheiden.
Dafür analysieren wir Daten in bisher nicht bekanntem Umfang: Wir können den Rückgang des Verbreitungsgebiets jeder einzelnen Lokalzeitung in Deutschland auf kommunaler Ebene über fast drei Jahrzehnte nachvollziehen. So messen wir Polarisierung in jedem Landkreis und für jede Bundestagswahl von 1980 bis 2009. Die Ergebnisse sind eindeutig: Nachdem sich eine Lokalzeitung aus dem Landkreis zurückzieht, polarisiert sich das Wählerverhalten.
Die Zeitungsbranche steht in vielen etablierten Demokratien seit Jahrzehnten unter Druck. Zunächst wurde der Kostendruck für eigenständige Ausgaben durch große Verlagshäuser hochgetrieben, in den letzten Jahren brach dazu das Geschäft mit Werbung durch die Abwanderung von Werbegeldern im Online-Bereich zusammen. Während die Auflage von Tageszeitungen in Deutschland im Jahr 1985 noch bei etwa 0,4 Ausgaben pro Person lag, hat sich diese Zahl in 2015 auf nur 0,2 Ausgaben pro Person halbiert. Unsere Daten zeigen, dass lokale Zeitungen besonders dort aus dem Markt ausscheiden, wo die Bevölkerung stärker zurückgeht und wo es eine große Anzahl von Wettbewerbern im Markt gibt. Allerdings gibt es kaum eine Region, die seit den 1980er-Jahren keinen Rückgang in der Anzahl der verfügbaren Zeitungen zu verbuchen hat.
Durch statistische Auswertungen konnten wir den Einfluss des Rückzugs einer Lokalzeitung auf die Polarisierung des Wahlverhaltens im betreffenden Landkreis bestimmen. Hierfür vergleichen wir die Veränderung unserer beiden Polarisierungsmaße in vom Zeitungssterben betroffenen Landkreisen mit der Veränderung der Polarisierung in nicht betroffenen Gebieten über die Zeit hinweg.
Die Abbildung zeigt, wie sich die Polarisierung in von Lokalzeitungssterben betroffenen Kreisen entwickelt. Dabei wird die Veränderung vom Stimmenanteil kleiner Parteien und vom Polarisierungsindex über einen Bundestagswahlzyklus, also in der Regel über einen Zeitraum von vier Jahren, geschätzt. Nach dem Wegfall einer Lokalzeitung erhöht sich in den betroffenen Landkreisen der Stimmenanteil von kleinen Parteien abseits der ideologischen Mitte um etwa 0,6 Prozentpunkte. Das zweite Maß von Polarisierung, der Polarisierungsindex, steigt ebenfalls um 0,5 Punkte an.
Anhand unserer detaillierten Analyse von Wahlergebnissen in allen deutschen Landkreisen über drei Jahrzehnte lässt sich festhalten, dass das Sterben von Lokalzeitungen zu einer zunehmenden Polarisierung der betroffenen Wählerschaft führt. Wähler in betroffenen Gebieten wenden sich von den Volksparteien ab und vergeben ihre Stimme mit höherer Wahrscheinlichkeit an kleinere Parteien, die weiter entfernt von der ideologischen Mitte stehen.
Warum polarisiert sich die Wählerschaft, nachdem Lokalzeitungen eingestellt werden? Lokalzeitungen sind eng mit ihrer jeweiligen Region verbunden und berichten in erhöhtem Maße über Lokalpolitik. Das wiederum bedeutet, dass sich Leser:innen der Lokalzeitungen eher mit Lokalpolitik befassen als Leser:innen, die nur überregionale Medien (wie beispielsweise Fernsehen oder große Tageszeitungen) konsumieren.
Forschung zur deutschen Lokal- und Kommunalpolitik zeigt, dass diese vor allem vom Streben nach Konsens geprägt ist. Konflikte entlang der nationalen Parteilinien finden sich hier selten, vielmehr wird oft in parteiübergreifenden Gremien entschieden. Dies zeigt beispielsweise ein Blick auf den Parteihintergrund vieler Bürgermeister:innen. Bei den kürzlich stattfindenden Bürgermeisterwahlen in Nordrhein-Westfalen wurde ein Viertel der erfolgreichen Kandidat:innen von mehr als einer Partei unterstützt. Etwa 12 Prozent der Sieger:innen kandidierten unabhängig von jedweder Partei. Diese Art des Kandidierens ist auf nationaler Ebene undenkbar.
Wenn sich nun eine Zeitung aus dem lokalen Markt zurückzieht, nimmt sie den Leser:innen die Möglichkeit, sich weiterhin tagesaktuell über Lokalpolitik zu informieren. Insbesondere wenn es keine andere Lokalzeitung gibt oder die Leserschaft sich für ein national ausgerichtetes Medium wie zum Beispiel eine Tageszeitung oder Fernsehnachrichten als Nachrichtenquelle entscheidet, steigt die Wahrnehmung für politische Themen und Konflikte auf der nationalen Ebene. Beispielsweise konnten wir zeigen, dass nationale Zeitungen deutlich häufiger über politisierende Themen wie Migration oder Umweltschutz berichten als Lokalzeitungen (während es bei Themen wie Infrastruktur oder Bildung kaum Unterschiede gibt).
Vor diesem Hintergrund ist unsere zentrale Annahme, dass sich das Verschwinden von Lokalzeitungen vor allem dadurch auf die Präferenzen der Wählerschaft auswirkt, weil es zu einer Veränderung des Medienkonsums führt. Wenn Bürger:innen weniger Zugang zu Informationen der Lokalpolitik erhalten, haben sie auch weniger Berührung mit den konsensualen Normen in der Lokalpolitik.
Um zu überprüfen, ob die Veränderung der Mediennutzung in von Lokalzeitungssterben betroffenen Kommunen unseren Erwartungen entspricht, haben wir in einem zweiten Schritt Daten zur Mediennutzung des Medienwissenschaftlichen Lehr- und Forschungszentrums in Köln ausgewertet. Diese Daten basieren auf Umfragen, in denen insgesamt 690.000 Personen in ganz Deutschland über ihre Mediennutzungsgewohnheiten befragt wurden. So können wir berechnen, ob eine Person Kontakt mit bestimmten Medien hatte oder nicht.
Dabei zeigt sich, dass in Landkreisen, aus denen sich Lokalzeitungen zurückziehen, der Konsum von überregionalen Tageszeitungen ansteigt. Teilnehmende der Media-Analyse aus diesen Regionen haben mehr Kontakt zu nationalen Medien – und somit auch zu den wesentlich politisierteren nationalen Debatten.
Unsere Daten erlauben es uns auch, genauer zu analysieren, welche nationalen Zeitungen vom Wegfall lokaler Zeitungen profitieren. So gewinnt vor allem die BILD nach dem Wegfall von Lokalzeitungen Leser:innen. Hingegen lässt sich kein Wechsel von Lokalzeitungen zu anderen überregionalen Tageszeitungen (wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Süddeutschen Zeitung oder Die Welt) feststellen.
Wir sehen gute Gründe dafür, dass ehemalige Leser:innen von Lokalzeitungen diese nach ihrem Ausscheiden teilweise durch die BILD ersetzen. In dem von uns beobachteten Zeitraum war die BILD die mit Abstand auflagenstärkste Tageszeitung – die auch im Alltag einfach erhältlich war. Sie war deutlich preiswerter als andere überregionale Tageszeitungen und machte ihre Berichterstattung mit einfacher Sprache für verschiedene Leser:innen zugänglich. In Anbetracht der Berichterstattung dieser Zeitung verwundert es nicht, dass in Landkreisen, in denen weniger Personen mit Informationen über einvernehmliche Lokalpolitik versorgt werden und ein signifikanter Teil zu solchen Medien nationaler Reichweite abwandert, polarisierter gewählt wird.
Für eine konsensuale Demokratie stellt das Sterben der Lokalzeitungen ein Problem dar. Immer weniger Leser:innen können sich über lokale Ereignisse und Lokalpolitik informieren – einen Politikbereich, in dem Konsens und parteiübergreifende Entscheidungsprozesse anstelle von Konflikt im Fokus stehen. Das Sterben der Lokalzeitungen ist ein wichtiger Erklärungsfaktor für Polarisierung, der bisher nicht ausreichend Beachtung im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs erfahren hat.