Manche sind gleicher
Ethnische Grenzen und die Offenheit gegenüber Flüchtlingsgruppen in Europa
Von Rebecca Wetter und Benjamin Schulz
Seit Putins Angriffskrieg mussten Millionen Menschen aus der Ukraine ihr Land verlassen, um in europäischen Nachbarländern Schutz zu suchen. Bereits unmittelbar nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine beschlossen die EU-Mitgliedstaaten am 3. März, erstmals die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie zu aktivieren. Dadurch können Ukrainer*innen einfacher in die EU einreisen; auch ihre Aufnahme wird erleichtert. So haben Menschen mit ukrainischem Pass vorübergehend das Recht auf Aufenthalt und Arbeitserlaubnis in einem selbstgewählten EU-Land – ohne Obergrenze oder vorheriges Asylverfahren. Mit entsprechendem politischem Willen verfügt die EU also über die Instrumente, um Flüchtenden schnell und wirksam Schutz zu bieten.
Angesichts der jahrelangen kontroversen Debatten über die Verteilung von Schutzsuchenden in der EU, über die Reform von Dublin II, vor allem aber angesichts des Vorgehens europäischer Behörden an den EU-Außengrenzen stellt sich die Frage, warum die EU nun zu einem so schnellen und weitgehenden Schutz geflüchteter Ukrainer*innen willens und in der Lage ist. Umso drängender stellt sich diese Frage, weil das politische Handeln europaweit breite gesellschaftliche Unterstützung findet. Die Aufnahmebereitschaft und Solidarität sind auch im fünften Monat nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine groß, gerade in osteuropäischen Ländern, die der Aufnahme von Flüchtlingen sonst skeptisch gegenüberstanden.
Die Gründe für die große politische und gesellschaftliche Unterstützung ukrainischer Geflüchteter sind vielfältig. So dürfte die besondere Soziodemografie der derzeitigen Zuwanderergruppe eine Rolle spielen. Vergleichsweise viele Geflüchtete sind Frauen und Kinder; das allgemeine Bildungsniveau ist hoch. Hinzu kommen Familienbande zwischen EU-Bürger*innen und Ukrainer*innen sowie die Tatsache, dass der russische Angriff auf die Ukraine und die europäische Friedensordnung unmittelbar an der Ostgrenze der EU stattfindet. Von Seiten der Aufnahmegesellschaft beeinflusst noch ein weiterer Faktor, wie gut die Integration von Geflüchteten gelingt: ethnische Grenzen. Dabei handelt es sich um Gesellschaft strukturierende Unterscheidungen, die zwischen bestimmten Gruppen vorgenommen werden und mit Normen, Erwartungen und Verhaltensweisen verknüpft sind. Wie andere aufgrund der Zuschreibung zu sozialen Kategorien (etwa Geschlecht oder Religion) vorgenommene Unterteilungen, so helfen auch ethnische Grenzziehungen dem Einzelnen, sich zu orientieren, Komplexität zu reduzieren, sich auf eine Situation leichter einzustellen und Verhalten zu koordinieren.
Starke ethnische Grenzen führen zu Diskriminierung
Es handelt sich bei ethnischen Grenzen also um mal schärfer und mal weniger deutlich vorgenommene soziale Kategorisierungen auf Basis ethnischer Zuschreibung, die beeinflussen, wie Menschen im Alltag miteinander umgehen. Starke ethnische Grenzen gehen häufig mit der Diskriminierung der so abgegrenzten Gruppe einher, die sich etwa in niedrigeren Erfolgsquoten bei der Wohnungssuche oder selteneren Einladungen zu Jobgesprächen, aber auch in geringerer Offenheit und stärkeren Ressentiments gegenüber diesen Gruppen und weiteren gruppenbezogenen Einstellungen niederschlagen.
In öffentlichen Debatten, in vielen Medienberichten, teils auch in der Forschung wird die Einstellung gegenüber Migration oft als einheitliches Konzept verstanden. Allerdings folgt nicht nur aus Befunden zur Wirkung ethnischer Grenzen, sondern auch aus Umfrageergebnissen, dass Einstellungen zu verschiedenen Flüchtlings- und Zuwanderergruppen stark variieren. So zeigen Daten des European Social Survey 2014 (ESS), dass in den Bevölkerungen vieler europäischer Länder die Aufnahmebereitschaft gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten wie Sinti und Roma sowie Muslim*innen geringer ist als gegenüber Migrant*innen der eigenen Ethnie. Während nur 6 Prozent der in der EU geborenen Befragten angeben, dass ihr Heimatland keine Migrant*innen der eigenen Herkunftsgruppe aufnehmen sollte, geben dies 10 Prozent für Migrant*innen anderer Herkunftsgruppen an. 18 Prozent sagen, Muslim*innen sollten nicht aufgenommen werden, für Sinti und Roma meinen das sogar 24 Prozent. Diese Unterschiede zwischen den Einstellungen gegenüber verschiedenen Zuwanderergruppen spitzen sich vor allen in osteuropäischen Ländern zu. In Deutschland sind beispielsweise 14 Prozent gegen die Aufnahme aller Sinti und Roma, während es in Polen 29 Prozent sind (im Vergleich 2 Prozent bzw. 7 Prozent sind jeweils gegen die Aufnahme von Personen ihrer eigenen Herkunftsgruppe).
Analysen der ESS-Daten zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen individueller Wertschätzung von öffentlicher Sicherheit und mangelnder Aufnahmebereitschaft in der Mehrheitsgesellschaft (definiert als Befragte*r wurde in entsprechendem EU-Land geboren) gegenüber Muslim*innen ebenso wie gegenüber Sinti und Roma gibt, nicht aber mit der Aufnahmebereitschaft gegenüber Personen der eigenen Herkunftsgruppe. Dieser Zusammenhang ist auch nicht auf Unterschiede in soziodemografischen Faktoren, anderen politischen Einstellungen oder der Anzahl und Intensität von interethnischen Kontakten zurückzuführen.
Diese Umfragedaten zeigen einmal mehr, dass ethnische Minderheiten, etwa die in der Ukraine große Gruppe von Roma, mit einer geringeren Aufnahmebereitschaft konfrontiert sind als weiße ukrainische Staatsbürger*innen. Dementsprechend gibt es bereits zahlreiche Berichte über Probleme beim Grenzübertritt für ethnische Minderheiten aus der Ukraine, auch weil die Anwendung der Massenzustrom-Richtlinie auf Menschen mit ukrainischem Pass beschränkt ist. Die EU-Richtline spiegelt also zu einem gewissen Teil die in Europa verbreiteten Einstellungen gegenüber verschiedenen Zuwanderer- und Flüchtlingsgruppen wider. Selbst nach erfolgreichem Grenzübertritt dürfte die Integration für Angehörige ethnischer Minderheiten schwieriger sein als für Geflüchtete, die der weißen ukrainischen Mehrheitsgesellschaft zugeordnet werden. Bei aller Freude über die anhaltend hohe Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine und die breite gesellschaftliche Solidarität, sollte die spezifische, oft schwierigere Situation von ethnischen Minderheiten, die in der EU Schutz suchen, aber auf weniger Wohlwollen und Offenheit stoßen, nicht vergessen werden.
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20.7.22