Putins Erzählung vom wachsenden Nationalismus und was die ukrainischen Wahlprogramme dazu sagen
Von Pola Lehmann und Sven Regel
Als die russischen Truppen am 24. Februar 2022 die ukrainische Grenzen überschritten und Putins völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine begann, begründetet der russische Präsident diesen Schritt mit nationalistischen Strömungen in der Ukraine und einer sich daraus ergebenden Notwendigkeit der „Entnazifizierung“ der Ukraine. Unabhängig von der Unaufrichtigkeit dieser Argumentation, nutzen wir sie für den Moment als Ausgangspunkt unserer Analyse. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Analyse der Wahlprogramme von Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ und der anderen gewählten ukrainischen Parteien zeigt ein anderes Bild und liefert keine substantielle Unterstützung für diese Argumentation.
Wahlprogramme sind ein Angebot an die Wähler*innen. Darin halten Parteien ihre Pläne für die künftige Legislaturperiode fest und legen dar, für welche Ziele sie sich mit welchen Mitteln einsetzen wollen. Im Manifesto-Projekt am WZB kodieren wir seit vielen Jahren die politischen Aussagen, mit denen sich die Parteien an ihre Wähler*innen richten. Jede Aussage eines Programms wird einem von 56 Politikzielen zugeordnet, darunter Ziele wie Umweltschutz, Demokratie, freie Marktwirtschaft, aber auch Nationalismus und militärische Stärke. Nach diesem Verfahren haben wir auch die Wahlprogramme der ukrainischen Parteien zu allen nationalen Parlamentswahlen seit 1994 untersucht. Die ukrainischen Wahlprogramme sind mit rund vier bis fünf Seiten im globalen Vergleich relativ kurz. Nur die Parteien in Aserbaidschan und Lettland veröffentlichen im Schnitt noch kürzere Programme. Trotz der Kürze enthalten die Texte wichtige Aussagen darüber, wohin die Parteien die Ukraine in der jeweils nächsten Legislaturperiode steuern wollen.
Schauen wir zuerst darauf, wie stark die „Förderung der nationalen Lebensweise“ betont wird. Darunter fallen positive Aussagen zur ukrainischen Identität, Nation und Geschichte sowie zur Stärkung des ukrainischen Nationalstaats. Auf den ersten Blick lässt sich im nach Wahlergebnis der Parteien gewichteten Durchschnitt seit 1994 ein gewisser Aufwärtstrend erkennen, der allerdings 2019 bereits gebrochen zu sein scheint. Hier liegt der gewichtete Durchschnitt unter jenem von 2014. Um zu verstehen, was hier passiert ist, schauen wir uns die letzten beiden Wahlen 2014 und 2019 im Detail an. Der vergleichsweise hohe Anteil national-orientierter Aussagen in 2014 kann sicherlich nicht unabhängig von den Entwicklungen in der Ukraine betrachtet werden. Die Parlamentswahlen fanden im Oktober 2014 statt, in direkter Reaktion auf die Folgen des Euromaidans, der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der wachsenden, von Russland geförderten, kriegerischen Auseinandersetzung in den Regionen Donezk und Luhansk. Es ist dieser Kontext, auf den die Parteien in ihren Programmen reagieren.
Eine genauere Betrachtung der national-orientierten Aussagen in den Programmen zeigt sodann, dass es zu großen Teilen um die Konfliktregionen geht und es sich somit um eine direkte Reaktion auf die Aggression Russlands handelt. So ist zum Beispiel die geforderte Stärkung der nationalen Identität im Wahlprogramm der in 2014 stärksten Partei, der Volksfront, einer Absplitterung von Yulia Timoshenkos Allukrainischen Vereinigung „Vaterland“, deutlich als Reaktion auf die äußere Aggression gefasst: „Ohne die zielgerichtete Arbeit des Staates zur patriotischen Erziehung der Bürger, ohne eine Politik der Bildung einer gemeinsamen nationalen Identität und ohne den Schutz des nationalen Informationsraums ist unsere Gesellschaft sehr anfällig für destruktive feindliche Einflüsse.” Im Angesicht eines externen Feindes rückt das Land näher zusammen, wird die ukrainische Identität gestärkt. Ein altbekanntes Phänomen, das auch aktuell in der Ukraine beobachtet werden kann. Man könnte also auch sagen, dass die Angriffe auf die territoriale Souveränität der Ukraine diese Entwicklung erst verursacht oder zumindest maßgeblich gestärkt haben.
Im Vergleich zu 2014 zeigen die aktuellsten Wahlprogramme, also jene aus dem Jahr 2019, bereits einen Rückgang national-orientierter Aussagen. Im Moment von Russlands Angriff 2022 hatte dieses Thema also schon an Bedeutung verloren. Noch aussagekräftiger sind die 2019er Daten aufgeschlüsselt nach Parteien. Im Wahlprogramm von Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ machen national-orientierte Aussagen nur 4,3 Prozent aller Aussagen aus. Das ist der zweitniedrigste Wert von allen Parteien und deutlich geringer als etwa die 14,8 Prozent von Poroshenkos Partei Europäische Solidarität. Die Ukrainer*innen haben sich also in großer Mehrheit für eine Partei entschieden, die Themen wie die ukrainische Identität und die Stärkung des ukrainischen Nationalstaats vergleichsweise wenig betonte. Wäre Putins Sorge um nationalistische Entwicklungen in der Ukraine also ehrlich gewesen, hätte er 2019 ob der Tatsache aufatmen können, dass diese Themen so schnell wieder hinter andere zurücktraten. Die beiden nationalistischen Parteien Swoboda und die Radikale Partei von Oleh Ljaschko hatten es gar nicht mehr ins Parlament geschafft und mit „Diener des Volkes“ war eine Partei mit über 40 Prozent ins Parlament eingezogen, die ein ganz anderes Programm verfolgte.
Wenn es aber nicht ein erstarkender Nationalismus war, war es dann die engere Anbindung an die EU und die NATO, die Putin um jeden Preis bekämpfen wollte und die im Westen öfter als eine Erklärung für die russische Aggression herangezogen wird? Auf Basis der Wahlprogramme bietet diese These keine Erklärung für den Zeitpunkt des Angriffs. Denn diese Themen spielten zum einen im politischen Wettbewerb 2019 keine entscheidendere Rolle als 2014 und zum anderen haben auch hier die Ukrainer*innen mit der Wahl Selenskyjs und seiner Partei „Diener des Volkes“ im Jahr 2019 den Fokus auf innenpolitische Themen gelegt.
Was aber steht in Selenskys Programm, das Putin bekämpfen wollte? Die beiden wichtigsten Themen im 2019er Programm der Partei „Diener des Volkes“ sind Korruptionsbekämpfung und Demokratie. So soll zum Beispiel die Immunität von Abgeordneten aufgehoben oder direkte Demokratie in Form von Referenden gestärkt werden. Mit der Wahl Selenskyjs und seiner Partei haben die Ukrainer*innen also ihrem Wunsch nach mehr Demokratie Ausdruck verliehen. Wie der von Selenskyj verkörperte Präsident in der Serie „Diener des Volkes“ wünschte die ukrainische Bevölkerung sich eine Demokratisierung ihres Landes. Weitere wichtige Punkte im Programm der Partei sind Wirtschaftsthemen: Infrastrukturausbau, Marktanreize, Marktregulierung. Auf Platz sechs findet sich militärische Stärke und erst auf dem geteilten siebten Platz folgt die nationale Lebensweise. Pro-EU Aussagen liegen sogar noch dahinter und wäre der EU-Beitritt wichtigstes Thema für die Ukrainer*innen gewesen, dann hätten sie erneut für Poroshenko und seine Partei stimmen müssen, die dieses Ziel von allen Parteien mit Abstand am stärksten thematisierte.