Nicht nur räumlich polarisiert
Kreuzverflechtungen in Aufsichtsräten
Robert Scholz
Große Kapitalgesellschaften mit Sitz in Deutschland haben in der Regel eine duale Führungsstruktur mit einem Vorstand, der für die Unternehmensführung verantwortlich ist, und einem Aufsichtsrat, der die strategische Ausrichtung des Unternehmens bestimmt, für die Bestellung und Entlassung der Vorstandsmitglieder zuständig ist und zum Beispiel das Vergütungssystem der Vorstände verabschiedet. Da es möglich ist, dass einzelne Personen mehrere Aufsichtsratsmandate wahrnehmen, treten sogenannte Kreuzverflechtungen („board interlocks“ oder „interlocking directorates“) auf. Sobald eine Person über Mandate in zwei, drei oder mehr Aufsichtsräten verfügt, sind diese zwei, drei oder mehr Unternehmen über eine soziale Beziehung miteinander verbunden, wie die Grafik zeigt.
Kreuzverflechtungen sind also interpersonelle Verflechtungen innerhalb und zwischen Wirtschaftszweigen. Typisch sind Kreuzverflechtungen innerhalb einer Branche, etwa zwischen Autoherstellern und Automobilzulieferern, aber auch zwischen Handelsunternehmen und Immobiliengesellschaften, die beispielsweise in einem Mieter-Vermieter-Verhältnis stehen. Auch die Rolle von Banken und Versicherungen wird immer wieder betont, die über Kredite oder Beteiligungen an vielen Unternehmen beteiligt sind und dann auch sektorübergreifend über Aufsichtsratsmandate verfügen. Im Netzwerk deutscher Großunternehmen, das als „Deutschland AG“ bekannt wurde, waren Kreuzverflechtungen in den Aufsichtsräten und gegenseitige Beteiligungen typisch.
Kreuzverflechtungen dienen auf persönlicher Ebene dem Austausch von Informationen, Wissen und Strategien. Die direkte Kommunikation zwischen den Aufsichtsrät:innen verringert Mehrdeutigkeit und reduziert Unsicherheiten. Auch sind die Informationen, die die Mandatsträger:innen aus ihrer Tätigkeit beziehen, aktuell und konkret. Aufsichtsräte sind als Kontrolleur:innen und Berater:innen in die Entscheidungsprozesse anderer Unternehmen eingebunden, sie können daraus lernen und dies auf andere Mandate übertragen. Unter anderem deshalb werden durch die Kreuzverflechtungen auch Normen für die Strukturierung der Unternehmensführung und -kontrolle (Corporate Governance) gesetzt, vor allem durch die oder den Aufsichtsratsvorsitzende:n, für die Bildung von Ausschüssen und weitere Gepflogenheiten der Aufsichtsratsarbeit.
Kreuzverflechtungen sind zentral für die Unternehmensreputation. Für ein Unternehmen ergibt sich Reputation, wenn bestimmte Personen im Aufsichtsrat Mandate übernehmen. Die personelle Zusammensetzung der Aufsichtsräte hat eine starke Außenwirkung und kann wesentlich sein für die Interaktion in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Umgekehrt kann aber auch das Ansehen einer Person steigen, wenn sie im Aufsichtsrat eines bestimmten Unternehmens sitzt. Kreuzverflechtungen und Netzwerke sind so besonders wichtig für die Karriereentwicklung der Aufsichtsräte – Mark S. Mizruchi sprach von „social ties among members of the upper class“.
Im operativen Geschäft wie in der strategischen Ausrichtung können Kreuzverflechtungen sogar die Wettbewerbssituation beeinflussen, da die Unternehmen durch die Verbindungen eher dazu neigen könnten zu kooperieren, statt zu konkurrieren. Auch Fusionen und Übernahmen können über diese Netzwerke angebahnt, aber auch abgewehrt werden. Warum und unter welchen Umständen es zu den Kreuzverflechtungen kommt, welche genauen Motive für die Unternehmen und die Mandatsträger:innen bestehen, ist noch nicht abschließend erforscht. Vielfach hängen die Kreuzverflechtungen auch mit den Eigentümerstrukturen zusammen. Relevant ist dabei etwa, welche Rolle langfristig engagierte Großaktionäre spielen oder wie stark die Konzentration auf einzelne Eigentümer ausfällt.
Aufsichtsrät:innen sind in zwei Arten von sozialen Netzwerken eingebettet. Diese ergeben sich aus persönlicher beziehungsweise beruflicher Verflechtung oder schlicht aus der geografischen Lage der verschiedenen Unternehmen. Erste geografisch ausgerichtete Arbeiten zu Kreuzverflechtungen zeigten beispielsweise, dass die Entwicklung des „Rust Belt“, also der größten und ältesten Industrieregion im Nordosten der USA, stark mit der Existenz von Kreuzverflechtungen verbunden war – eine Ursache für den technologischen Vorsprung, den diese Unternehmen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten. Als später andere Sektoren und Regionen wirtschaftlich wichtiger wurden, aber die Kreuzverflechtungen zu diesen neuen Unternehmen fehlten, wurden die traditionellen Industriefirmen von wichtigen Informationen ausgeschlossen und gerieten wirtschaftlich und technologisch in den Rückstand. Über Kreuzverflechtungen lassen sich Rückschlüsse auf die Bedeutung von Standorten und regionalen Entwicklungen ziehen.
Inwiefern spielen Kreuzverflechtungen in den größten in Deutschland börsennotierten Unternehmen eine Rolle, und wie sind sie räumlich ausgerichtet? Dazu haben wir im MB-ix-Projekt die Daten der 160 in den Leitindizes DAX, MDAX und SDAX (und damit auch TecDAX) notierten Unternehmen für 2019 untersucht (neuere Daten können noch nicht vollständig erhoben werden, da bislang nicht alle Geschäftsberichte für 2020 veröffentlicht sind). Unter den 160 Unternehmen sind 14 Unternehmen, die ihren Sitz im Ausland haben, vor allem in Luxemburg (8) und den Niederlanden (3). Zwar bestehen auch zu diesen Unternehmen Kreuzverflechtungen; um die Komplexität zu begrenzen, wurden diese Fälle in der folgenden Darstellung allerdings ausgeschlossen.
Kreuzverflechtungen zwischen den Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen der Leitindizes DAX, MDAX, SDAX in 2019 nach unterschiedlichen Dimensionen
Das Verflechtungsnetzwerk wird in der Abbildung dargestellt, wobei die Punkte die Standorte darstellen und anzeigen, wie viele Unternehmen dort jeweils ansässig sind. In Berlin haben beispielsweise 9 der 160 Unternehmen ihren Sitz. Die Linien zwischen den Punkten stellen die Kreuzverflechtungen dar. Je dicker die Linie ist, umso mehr „interlocks“ gibt es zwischen diesen Standorten. Auch ist es möglich, dass es innerhalb einzelner Standorte Kreuzverflechtungen gibt, abgebildet durch die Kreisform, wie etwa in München oder Hamburg. Bei der Betrachtung der Kreuzverflechtungen werden starke Polarisierungen in unterschiedlichen Dimensionen deutlich:
Die räumliche Verteilung der Hauptsitze der großen Unternehmen ist in Deutschland sehr ungleichmäßig. Es gibt eine Headquarter-Lücke in den gesamten neuen Bundesländern, aber auch in Teilen Norddeutschlands. Im Süden und Westen sieht es weitaus besser aus: Allein in München haben 16 Unternehmen ihren Sitz, in Hamburg 12, in Berlin 9, in Düsseldorf 8 und Frankfurt am Main 7. Die TOP-5-Städte kommen zusammen etwa auf ein Drittel der Unternehmenssitze (52 von 146 in Deutschland). Die meisten Unternehmen sitzen in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hessen. Mit Blick auf Ostdeutschland sind es 9 in Berlin und nur zwei weitere im thüringischen Jena. Die Headquarter-Lücke schlägt sich folglich auch in den Kreuzverflechtungen nieder. Die Achse von München über den Rhein-Neckar-Raum ins Rheinland ist dominant, mit einigen Verbindungen nach Hamburg und Hannover. Berlin und große Teile des ländlichen Raums liegen außerhalb dieses Netzwerks: Der Osten und Norden sind quasi abgehängt.
Bestimmte Konzerne treten in diesem Netzwerk sehr viel zentraler auf als andere. Nach der Anzahl der Personen, die über mindestens zwei Aufsichtsratsmandate in den betrachteten Unternehmen verfügen und damit mindestens für eine Kreuzverflechtung verantwortlich sind, sind folgende Unternehmen besonders wichtig im Netzwerk: der Handelskonzern Ceconomy (11), der Autohersteller BMW (10) und die Deutsche Telekom (10). Während einige also eine sehr wichtige Rolle spielen, sind viele andere Unternehmen gar nicht in das betrachtete Netzwerk involviert.
Neben der hohen Bedeutung einzelner Unternehmen tragen auch einzelne Personen zur Polarisierung bei, weil sie über mehr Mandate verfügen als andere. Im untersuchten Datensatz übernehmen bestimmte Aufsichtsräte bis zu vier Mandate. Es kommt damit zu einer starken Konzentration von Macht und Einfluss, die Fäden laufen am Ende nur in wenigen Händen zusammen. Am stärksten ist das bei der Deutschen Telekom der Fall, wo 5 Aufsichtsrät:innen über 10 Verbindungen in andere Konzerne verfügen, aber es gibt etliche andere Beispiele. Das im Extremfall auftretende „Overboarding“ wird von verschiedenen Akteur:innen kritisch gesehen. Investor:innen sehen darin etwa die Gefahr, dass nicht mehr genug inhaltliche und organisatorische Offenheit bei der Besetzung der Führungs- und Kontrollposten besteht. Ebenso wird kritisiert, dass es rein organisatorisch schwer leistbar ist, zum Beispiel mehrere Aufsichtsratssitzungen im Jahr bei mehreren Unternehmen wahrzunehmen – zumal viele dieser Aufsichtsräte selbst Vorstandsmandate in Großkonzernen wahrnehmen oder an der Spitze anderer Organisationen tätig sind.
Ein spezielles Merkmal der deutschen Corporate Governance ist die Tatsache, dass für Kapitalgesellschaften mit mehr als 2.000 Beschäftigten in Deutschland nach dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 eine paritätische Besetzung der Aufsichtsräte mit Vertreter:innen der Anteilseigner:innen und der Arbeitnehmer:innen vorgeschrieben ist (die Größe des Aufsichtsrats bemisst sich nach der Anzahl der Beschäftigten). Allerdings hat der/die Aufsichtsratsvorsitzende ein doppeltes Stimmrecht, sodass die Arbeitnehmerseite im Falle eines Patts überstimmt werden kann. Wie die Karte zeigt, sind Kreuzverflechtungen unter den Vertreter:innen der Anteilseigner:innen viel häufiger anzutreffen als bei denen der Arbeitnehmer:innen. Das liegt vor allem daran, dass für die Arbeitnehmer:innen größtenteils Vertreter:innen aus den Betrieben in den Aufsichtsrat entsandt werden, also vor allem Betriebsrät:innen. Aber es sind auch 2 beziehungsweise 3 Gewerkschaftsvertreter:innen zu wählen, die für Kreuzverflechtungen infrage kommen. Dennoch ist festzuhalten, dass die Seite der Anteilseigner:innen für 129 der 143, also für 90 Prozent der Kreuzverflechtungen verantwortlich ist.
Die ungleiche Besetzung von Führungspositionen ist seit Langem einer intensiven politischen Diskussion ausgesetzt, weil vor allem Frauen in vielen Gremien an der Spitze der großen Unternehmen, aber auch vieler anderer Organisationen unterrepräsentiert sind. Mit Einführung des „Gesetzes für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen (FüPoG)“ sind in börsennotierten und paritätisch mitbestimmten Unternehmen seit 2015 Aufsichtsratsgremien mindestens zu jeweils 30 Prozent mit Frauen und Männern zu besetzen. Das spiegelt sich auch im Netzwerk der Kreuzverflechtungen wider: Von den 143 Kreuzverflechtungen werden 44 von Frauen wahrgenommen – das sind 31 Prozent. Daraus wird ersichtlich, dass Frauen – entsprechend ihrem Gesamtanteil an den Mandaten – genauso in Kreuzverflechtungen involviert sind wie Männer. Ihre Fähigkeiten zur Vernetzung stehen denen der Männer offensichtlich nicht nach.
Für die Übernahme von Aufsichtsratsmandaten werden Menschen vor allem durch ihre berufliche Qualifikation befähigt. Vielfach werden ehemalige Vorstände und vor allem Vorstandsvorsitzende nach der Niederlegung ihrer Führungsmandate als Aufsichtsräte berufen. Ein gewisser Teil hat aber auch eine akademische Karriere absolviert (hier verstanden, wenn ein Doktor- oder Professorentitel getragen wird). Ihr Anteil ist mit 70 von 143 Kreuzverflechtungen auch deswegen beträchtlich, weil unter anderem gerne der technische oder wirtschaftliche Sachverstand von Ingenieur:innen oder Wirtschaftsprüfer:innen in die Kontrollgremien geholt werden.
Unsere Analyse der Kreuzverflechtungen macht Polarisierungen in verschiedenen Dimensionen deutlich: Die räumliche Verteilung der Unternehmen ist sehr ungleich, außerdem sind einzelne Unternehmen stärker im Netzwerk präsent, genauso wie einige Mandatsträger:innen. Es gibt außerdem stark polarisierende Variationen beim Unterschied zwischen Vertreter:innen der Anteilseigner:innen und Arbeitnehmer:innen. Weniger polarisiert ist die Situation bei den Geschlechterunterschieden und bei der Wahrnehmung von Mandaten durch Akademiker:innen.
Zwar bietet die Analyse einen eindrucksvollen Blick in die Vernetzung der wirtschaftlichen Elite. In der Forschung zu „board interlocks“ bleiben aber Fragen unbeantwortet, die auch methodisch anders angegangen werden müssten. Relevant sind sie allemal: Wie wirken sich Kreuzverflechtungen auf die Vergütungen der Vorstände und Aufsichtsräte aus? Welche Rolle spielen sie für die Anfälligkeit für Übernahmen, die eigene Akquisitionsfreudigkeit, die Fähigkeit zur Reorganisation von Unternehmensstrukturen und die wirtschaftliche Performanz insgesamt? Auch die Frage, ob Aufsichtsräte lieber Mandate in sich stark oder schwach entwickelnden Firmen annehmen, ist nicht abschließend beantwortet. Auch ist noch unklar, ob Unternehmen, die in dem von uns beobachteten Netzwerk vollständig isoliert sind, stattdessen in andere sektorale/familiäre/regionale Netzwerke eingebunden sind. Das Thema ist also ein ergiebiges Feld an der Schnittstelle zwischen geografischen und sozialwissenschaftlichen Forschungslinien.