Das strukturelle Problem der Weltgesundheitsorganisation
Ein Beitrag von Mira Fischer
Der Coronavirus-Ausbruch demonstriert derzeit sehr eindrücklich die Notwendigkeit internationaler Koordination im Gesundheitsbereich. Hier kommt der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Schlüsselposition zu, deren Aufgaben sowohl die Faktensicherung als auch die Formulierung von politischen Empfehlungen umfassen. Die Ereignisse der letzten Monate zeigen jedoch, dass die Verflechtung dieser beiden Aufgaben in einer Organisation problematisch ist.
Die WHO hatte seit der offiziellen Bekanntmachung des Ausbruchs Ende Januar durchgehend von Reisebeschränkungen abgeraten und tut dies weiterhin, obwohl sie in einem Situationsbericht vom 28.02.2020 feststellte, dass Länder, die – entgegen ihrer Empfehlung – Reisebeschränkungen eingeführt hatten, die Ausbreitung zwar nicht verhindern, jedoch verlangsamen konnten. Gleichzeitig lobte die WHO im Januar Chinas Vorgehen, im eigenen Land die Reisemöglichkeiten drastisch einzuschränken.
Warum die WHO die Effektivität von Reisebeschränkungen für die Verzögerung der Virusverbreitung festgestellt, aber gleichwohl von diesen abgeraten hat, ist auf den ersten Blick unverständlich. Es verwundert umso mehr, als mehrere asiatische Länder durch eine schnelle Reaktion mit Reisebeschränkungen in Kombination mit Kontaktverfolgung und sozialer Distanzierung den Ausbruch bereits vor Wochen, nahezu ohne Bewegungseinschränkungen und mit vergleichsweise geringem wirtschaftlichen Schaden, unter Kontrolle gebracht zu haben scheinen. Denn dies lässt vermuten, dass man eine Pandemie und gerade auch eine Verbreitung des Virus von reicheren in ärmere Länder hätte verhindern können, wenn man frühzeitig gehandelt hätte. Selbst wenn man nicht an den vollständigen Erfolg dieser Maßnahmen glaubt, hätten sie nicht zumindest den Zeitraum zwischen einer Überlastung der Gesundheitssysteme und der breiten Verfügbarkeit eines Gegenmittels signifikant verkürzt und so unterm Strich gesellschaftliche Kosten eingespart?
Laut Experten war die WHO bei Bekanntwerden des Coronavirus in einer Zwickmühle. Es sei das erste Mal gewesen, dass sie mit einer sich so rasant ausbreitenden Epidemie in einem so mächtigen und in vielerlei Hinsicht geschlossenen Land zu tun gehabt habe. Da die WHO Informationen von China benötigte, um zu einer Einschätzung der Lage kommen zu können, habe sie bei der Kommunikation ihrer Einschätzung chinesische Wirtschaftsinteressen berücksichtigen müssen. Die WHO-Empfehlungen, den Flugverkehr aus China nicht einzuschränken, könnten Teil dieses Kompromisses gewesen sein. Für diesen waren die WHO und deren Generaldirektor Tedros Ghebreyesus bereits Ende Januar starker Kritik in den sozialen Medien ausgesetzt , was den europäischen Regierungen nicht entgangen sein wird. Dennoch folgte die Bundesregierung den Empfehlungen der WHO und lehnte noch bis Mitte März Reisebeschränkungen ab.
Als dann aber der Schrecken der exponentiellen Verbreitung auch für Laien deutlich wurde, beschnitt die Politik schnell die Freiheit jedes Einzelnen im Lande. Wurde noch am 8. März lediglich die Absage von Großveranstaltungen diskutiert, begab sich Deutschland schon eine Woche später in den sogenannten Lockdown, durch den auf einen Schlag das Kultur- und Sozialleben verboten wurde, Millionen von Menschen faktisch ihre Arbeit verloren und Kinder nicht mehr zur Schule gingen. Die meisten europäischen Länder verhängten ebenfalls drastische Einschränkungen, und ab dem 17. März riegelte die Europäische Union ihre Grenzen ab – zu einem Zeitpunkt, an dem dies kaum mehr Positives bewirkt haben wird, da etwa Deutschland bereits über 9.000 nachgewiesene Fälle hatte und sich das Virus bereits von Europa aus in andere Erdteile verbreitet hatte.
Singapur, Südkorea und Taiwan – Länder, die entgegen der WHO-Empfehlung Reisebeschränkungen eingeführt und entsprechend der WHO-Empfehlung unmittelbar angefangen hatten, ihre Bevölkerung auf das Virus zu testen – haben nur eine sehr geringe Anzahl an Infizierten und Todesopfern zu beklagen, und das im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern mit deutlich geringeren Einschränkungen individueller Freiheiten und des Sozial- und Wirtschaftslebens. Die europäischen Länder machten es hingegen anders herum und hatten zunächst den kurzfristig billigen Ratschlag (keine Reisebeschränkungen) befolgt und den kurzfristig teuren Ratschlag (Massentests) zunächst nicht umgesetzt. Dies scheint den Lockdown als Holzhammer-Methode zur Unterdrückung der Neuansteckungen jedoch erst notwendig gemacht zu haben.
Man darf sich darüber streiten, ob die WHO einen Fehler gemacht oder sich unter den ihr gegebenen Beschränkungen wohlfahrtsmaximierend verhalten hat, wenn sie mit China Zurückhaltung in Reiseempfehlungen gegen Informationen über den Ausbruch getauscht hat. Falls Regierungen jedoch bei der Befolgung dieser Reiseempfehlungen ignoriert haben sollten, dass diese aufgrund von strategischen Abhängigkeiten eher zu zurückhaltend ausfallen mussten, war dies weder aus der Sicht des eigenen Landes noch aus der Sicht des Rests der Welt wohlfahrtsmaximierend. Es ist nicht zu erwarten, dass die Weltgemeinschaft zur Eindämmung zukünftiger Epidemien besser aufgestellt sein wird, solange die Aufgabe der Faktensicherung nicht von der Rolle des Normengebers getrennt ist. Nur ein Entwirren von wissenschaftlichen und politischen Funktionen durch institutionelle Veränderungen, nicht aber eine pauschale Abstrafung der WHO durch Mittelkürzung, wie etwa von Donald Trump angedroht, kann hier zu einer Verbesserung führen.
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14. April 2020