Kill or Pay the Bill: Vol. 3
Ein Beitrag von Anna Holzscheiter und Steffen Huck
In Vol. 1 und Vol. 2 unserer Reihe zum Thema Geld oder Leben haben wir die systematische Unsystematik in der Gesundheitspolitik in und vor der Corona-Krise dargestellt. Weder sind wir vor der Medizin alle gleich, noch folgen die Ungleichbehandlungen der Logik, die gegebenen Mittel so einzusetzen, dass sie die Summe des Leidens minimieren. Stattdessen folgt die Priorisierung unterschiedlicher Krankheiten im Normalfall einer politökonomischen Logik, geprägt vom Interessenkonflikt vieler Akteure, darunter auch solcher, die mit Gesundheit ihr Geld verdienen.
In der augenblicklichen Pandemie hatten bislang freilich vor allem die Regierungen das Sagen und dabei, insbesondere im globalen Norden, die Bereitschaft gezeigt, der Gesellschaft Kosten in nie gekannter Höhe aufzubürden, um Menschenleben vor Covid-19 zu retten. Und bemerkenswerterweise waren es dieselben Regierungen, die vor der Pandemie noch eifrig Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem implementiert hatten, anstatt mit höheren Investitionen mehr Leben zu retten. Allein in Deutschland sterben jahrein, jahraus rund 90.000 Menschen, die mit besserer Gesundheitsversorgung nicht sterben müssten.
In dieser Folge fragen wir, wie es sein kann, dass ein und derselbe Akteur das identische Entscheidungsproblem – sollen wir mehr investieren, um mehr Menschen zu retten? – so unterschiedlich löst. Unsere Antwort rekurriert auf einen Bereich der Forschung, in der die experimentelle Philosophie auf die Neurowissenschaften trifft, wunderbar dargestellt in Robert Sapolskys grandiosem Buch „Behave!“, das sich den biologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens widmet.
Ein Zug fährt auf eine Gruppe von fünf Menschen zu, die den Zug nicht sehen und, wenn nichts sonst passiert, von ihm überfahren werden. Zufällig stehen Sie neben dem Hebel, der eine Weiche so umstellen kann, dass der Zug auf ein anderes Gleis geleitet wird, auf dem er nur eine Person überrollt. Würden Sie den Hebel umlegen?
Eine deutliche Mehrzahl von Probanden in experimentellen Studien sagt, sie würden den Hebel umlegen. Das ändert sich jedoch in folgendem Problem, das dieselben materiellen Auswirkungen hat.
Ein Zug fährt auf eine Gruppe von fünf Menschen zu, die den Zug nicht sehen und, wenn nichts sonst passiert, von ihm überfahren werden. Zufällig stehen Sie neben einem Mann. Wenn Sie diesen Mann schubsen, fällt er auf das Gleis, was den Zug zum Entgleisen bringt, sodass die fünf Menschen gerettet werden. Würden Sie schubsen?
Schubsen würde nur eine kleine Minderheit. Dieses Verhaltensmuster (Hebel ja, Schubsen nein) ist überaus robust, entzieht sich aber der Logik der Konsequenzen, nach der Entscheidungen auf Grundlage einer Abschätzung der individuellen und kollektiven Folgen getroffen werden sollen. Auf dieser Logik basiert die utilitaristische Verhaltensethik, und diese legt wiederum den Grundstein für eine rationale Gesundheitsökonomik.
Sapolsky diskutiert sodann Studien, in denen Probanden Entscheidungen dieser Art treffen mussten, während ein fMRT (funktionelle Magnetresonanztomografie) ihre Gehirnfunktionen untersucht. Dabei stellt sich grob gesagt heraus, dass das Hebel-Framing moderne Gehirnteile aktiviert, die mit kühler Kosten-Nutzen-Rechnung assoziiert sind, während das Schubsen eher ältere Gehirnregionen aktiviert, die mit emotionalen Reaktionen assoziiert sind.
Man könnte aus diesen Untersuchungen nun ableiten, dass wir im Zweifel doch eher unseren modernsten Gehirnfunktionen trauen sollten, und ergo vielleicht besser auch schubsen sollten. Aber: Sapolsky widerspricht und argumentiert eloquent, dass unser Reptiliengehirn, das viel längere evolutionäre Selektionen durchlaufen hat, genau weiß, was es tut. Schubsen ist eine Grenzüberschreitung, und intuitiv ahnen wir, dass, wenn wir das einmal tun, wir womöglich in einer neuen Welt landen, einer Welt, in der es erlaubt ist, Leute vor den Zug zu werfen, einer Welt, in der wir nicht wirklich leben wollen.
Was hat das mit Covid-19 zu tun? Um sich das klarzumachen, muss man sich nur wieder die Bilder aus Norditalien oder New York in Erinnerung rufen, wo verzweifelte Ärzte die Patienten von ihren Beatmungsgeräten nehmen mussten, um sie in aller Einsamkeit ersticken zu lassen, und wo Militärtrucks die Leichen abtransportierten. Das sind Bilder, von denen wir intuitiv ahnen, dass wir sie als Gesellschaft nicht hinnehmen dürfen, von denen wir wissen, dass sie unser Menschenbild auf gefährliche Weise verändern werden, wenn wir sie als das Ergebnis rationalen Entscheidens verkaufen.
Die von Sapolsky inspirierte Sichtweise erklärt die Reaktion vieler Regierungen und erklärt sie auch für richtig. Die Frage bleibt, ob dies dann zwangsweise bedeutet, dass Gesundheitspolitik während einer schlimmen Seuche anders entscheiden muss als in Normalzeiten. Das wäre aus unserer Sicht ein Fehlschluss. Im Gegenteil, wir sollten aus unserer Empathie heute lernen, dass es auch in Normalzeiten Menschen gibt, die unsere Empathie verdienen. Menschen, die wir retten können, wenn wir für langfristig besser ausgestattete Gesundheitssysteme stimmen und auch jetzt nicht diejenigen vergessen, die von Masern, Polio, Malaria, Tuberkulose und vielen anderen vermeidbaren Krankheiten bedroht sind, deren Bekämpfung unter den Covid-19-Lockdowns leidet.
Nur so können wir das Beste aus unserem ganzen Gehirn machen.
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27. Mai 2020