Ukrainische Verteidigungsanlage
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Demokratie als Bedrohung

Von Bernhard Weßels

Es gibt die Hypothese des demokratischen Friedens. Vereinfacht ausgedrückt behauptet sie, dass demokratische Staaten mit geringerer Wahrscheinlichkeit Kriege gegeneinander führen als nicht demokratische Staaten. Diese These wird jedoch in der aktuellen Debatte infrage gestellt.

Es mag sein, dass die Hypothese des demokratischen Friedens nicht mehr haltbar ist. Es kann aber auch sein, dass eine Art gegenteilige Hypothese immer noch gültig ist. Was in der Literatur tatsächlich weniger umstritten ist, ist die Tatsache, dass transformative Situationen einen Unterschied machten – in dieser Beziehung vielleicht auch in Russland im Besonderen. Personalistische Politik ist kein neues Merkmal Russlands. Joseph Conrad, polnisch-britischer Schriftsteller, schrieb in seinem Artikel Autokratie und Krieg im Jahr 1905 über Russland, es sei ein Land, das von „nichts als dem willkürlichen Willen eines obskuren Autokraten am Anfang und Ende seiner Organisation“ regiert wird.

Um Russland zu verstehen, muss man sich in den Kopf – den Willen – seines Führers versetzen. Personen spielen sicherlich eine wichtige Rolle in der Weltgeschichte. Aber es gibt möglicherweise einen systematischeren Ansatz für das Phänomen personalistischer Politik und der Affinität zu militärischen Aktionen. Dieser systematische Ansatz zeigt sich in dem, was die amerikanischen Politikwissenschaftler Edward D. Mansfield und Jack Snyder im Jahr 2002 über unvollständige Demokratisierung geschrieben haben.

Sie stellen fest, dass bestimmte Arten von demokratischen Übergängen das Risiko solcher Streitigkeiten innerhalb von Dyaden deutlich erhöhen, selbst wenn die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Staaten berücksichtigt werden. Besonders anfällig für Gewalt sind Dyaden, in denen einer der beiden Staaten einen unvollständigen demokratischen Übergang erlebt, das heißt einen Übergang von einem autokratischen zu einem teilweise demokratischen oder anokratischen Regime, der vor der Etablierung konsolidierter demokratischer Institutionen zum Stillstand kommt.

Zwischen Autokratie und Demokratie

Es gibt Hinweise darauf, dass Staaten, die einen unvollständigen demokratischen Übergang von einer Autokratie zu einer Anokratie (und zurück) erleben, weitaus häufiger militärische Auseinandersetzungen suchen als Staaten, die andere Arten von Regimewechsel oder überhaupt keinen Wechsel erleben.

Aber was ist das Problem? Ist es die Demokratie, die an die Türen dieser Staaten klopft? Werfen wir einen Blick auf die Landkarte des politischen Wandels in Mittel- und Osteuropa: Vergleicht man den Freedom-House-Status der Staaten in der frühen Transformationsphase von 1991 bis 1995 mit dem Zeitraum von 2016 bis 2020, zeigt sich Folgendes: Russland und Weißrussland veränderten sich um durchschnittlich minus 2,7 Freedom-House-Punkte von „teilweise frei“ zu „nicht frei“. Es gibt nur ein Land des ehemaligen Ostblocks, das ebenfalls eine negative Statusveränderung aufweist, nämlich Ungarn, das allerdings von „frei“ zu „teilweise frei“ wechselte.

Vier Länder haben sich von „teilweise frei“ zu „frei“ positiv verändert: Estland, Lettland, die Slowakei und Rumänien. Und es gab vier Länder mit einem konstanten Status von „frei“, nämlich Litauen, Polen, die Tschechische Republik und Bulgarien. Die Ukraine liegt mit ihrem stabilen Status „teilweise frei“ dazwischen.

Es scheint, dass die Demokratie der russischen Autokratie, die eine begonnene und unvollendete Transformation und den Rückschritt hinter sich hat, einfach zu nahekommt. Wie Dirk Kurbjuweit, Journalist des Spiegels, es kürzlich formuliert hat: „Der Wunsch nach Freiheit und Demokratie macht Diktatoren Angst, in Russland, in China, in Arabien. Der russische Krieg gegen die Ukraine ist auch eine Folge dieser Angst.“ 

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29.3.22